Das Haus mit den roten Fenstern

Wenn Ben aus dem Fenster schaute, sah er das kleine, gelbe Haus im Innenhof. Es strahlte eine immense Anziehungskraft auf ihn aus, seit er mit seiner Mutter vor zwei Wochen in die neue Wohnung gezogen war. Zuvor war es ihm nie aufgefallen, wenn er auf dem Weg zur Schule an der unscheinbaren Einfahrt vorbeigelaufen war, die zu dem Hinterhof führte. Dabei sah man die linke Ecke des Hauses sogar vom Gehsteig auf der anderen Straßenseite aus. Weil die Erwachsenen nur ganz leise, hinter vorgehaltener Hand über diesen Ort sprachen, wusste er, dass er einige Rätsel barg. Das größte war jedoch die Frage, wie es überhaupt in den Hinterhof gekommen war. Entweder hatte es schon immer dort gestanden und die anderen Häuser wurden im Laufe der Zeit einfach drumherum gebaut oder man hatte es mit einem riesigen Kran dort platziert. Eine andere Erklärung ließ sich nicht für das Phänomen des winzigen Hauses mitten in der Innenstadt finden."

Aber es gab noch eine andere Sache, die Ben beschäftigte. Sobald es dunkel wurde, fingen die Fenster an rot zu leuchten. Und je später es wurde, desto mehr Besucher kamen in das Haus mit den roten Fenstern. Ben vermutete, dass es so eine Art Kneipe war. Ebenso wie die, die sich im Erdgeschoss ihres Hauses befand und immer so laute Musik spielte. Aus dem Haus gegenüber hörte er jedoch nie Musik. Das musste ja eine ganz schön langweilige Bar sein, schlussfolgerte er. Dazu passten die seltsamen Gäste, von denen viele ihr Gesicht mit einer Mütze oder Kapuze bedeckten und es kaum erwarten konnten, schnell im Inneren zu verschwinden. Allzulange konnte er sich das Treiben nachts aber nicht ansehen. Punkt 20:00 Uhr zog seine Mutter die Jalousien runter und bläute ihm unter Androhung von Hausarrest ein, sie bis zum Morgengrauen nicht mehr hochzulassen. Wenn er wissen wollte, warum, gab sie nur zur Antwort, dass das rote Licht für einen unruhigen Schlaf sorgte. Wollte er daraufhin wissen, warum die Fenster überhaupt rot leuchteten, druckste sie herum und meinte dann genervt, dass ihn das nichts anginge. Da war Ben aber anderer Meinung. Wenn das rote Licht ihn tatsächliche schlechter schlafen ließ, dann ging ihn das sehr wohl was an. Er würde das Geheimnis hinter dem Haus mit den roten Fenstern schon lösen.

An manchen Nachmittagen, wenn Bens Mutter noch arbeitete, trieb er sich heimlich im Hof rum. Obwohl dieser von den Fenstern von mindestens vier Blockhäusern einsehbar war, konnte man ihn nur durch dieses eine betreten. Er war ringsum durch hohe Betonmauern von den Innenhöfen der anderen Häuser abgetrennt. Obwohl der Platz winzig war, gab es drei Parkplätze. Einen an der Vorderseite des gelben Hauses und zwei an der Seite. Dort stand oft ein großes rotes Auto mit einem Pferd drauf. Aber kein Ferrari, die kannte Ben. Die anderen Parkplätze blieben meist frei. Bei seinen Streifzügen hatte Ben außerdem schon zwei Beobachtungen gemacht, die vielleicht zur Lösung des Rätsels des gelben Hauses beitragen könnten. Erstens gehörten von den sechs Wohnungen in seinem Haus zwei zu dem gelben Haus. Dort zogen im wöchentlichen Wechsel Frauen ein, die dort ein und aus gingen. Sie unterhielten sich in Sprachen, die er nicht verstand. Zweitens wohnten außer ihm und seiner Mutter nur komische Leute in dem Haus. Es gab keine Kinder. Über den Wohnungen im ersten OG, die von den Frauen bewohnt wurden, wohnte außer Ben und seiner Mutter ein tauber alter Mann mit einem genauso tattrigen kleinen Hund. Über ihnen wohnte ein langer, dürrer Kerl mit langen Haaren, dem ein Tonstudio zwei Häuser weiter gehörte, in dem er die meiste Zeit verbrachte. Ihm gegenüber lebte eine chinesische Frau, die Ben bis jetzt nur einmal gesehen hatte und die kaum da zu sein schien. Selbst mit seinen zehn Jahren ahnte er, dass an der Sache etwas faul war.

An diesem Nachmittag hatte er sich vorgenommen, endlich mal einen Blick auf das Klingelschild des gelben Hauses zu werfen. Bislang hatte er noch nicht den Mut aufbringen können, sich so weit vorzuwagen. Vier bis fünf Schritte davor hatte er bis jetzt immer wieder kehrt gemacht. Der Moment war perfekt. Es war still im Hof, die Fenster der umliegenden Häuser größtenteils geschlossen. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor der anderen, um keinen Lärm zu verursachen. Er war schon ganz nah, als er aus dem Inneren plötzlich Schritte hörte. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Panisch drehte er um und ging hinter einer der Mülltonnen an der Mauer in Deckung. Einen Moment später ging die Tür auf. Ein paar Pumps klackten auf dem Asphalt. Es waren nicht mehr als zehn Schritte, dann wurde es wieder still. Ben wiegte sich bereits in Sicherheit, als mit einem Mal der Mülltonnendeckel angehoben wurde und etwas hineinfiel. Ein kleiner Piepser entfuhr ihm. Panisch hob er sich die Hand vor den Mund. Der Deckel knallte zu und wieder hörte er Schritte, die ebenso schnell verstummten wie zuvor. Eine Weile lang wartete er ab, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte. Dann schielte er vorsichtig hinter der Mülltonne hervor in den Hof. Seine Augen fielen auf ein paar schwarze Pumps mit roter Sohle. Die Frau saß auf dem Randstein vor dem Haus. Als sein Blick weiter hochwanderte, trafen seine Augen auf ein anderes Paar, haselnussbraun und durchdringend, das ihn direkt anstarrte. Ben erschreckte sich so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor und rücklings umfiel. Sein Kopf prallte gegen die Betonmauer und er schrie laut: „Aua!“

Einen Moment später stand die Frau mit den braunen Augen über ihm und sah ihn mitleidvoll an. „Alles gut bei dir, Junge? Hast du dir wehgetan?“, fragte sie und reichte ihm die Hand. Mechanisch streckte er den Arm aus und ließ sich hochziehen. Er war so gebannt von der Schönheit dieser Fremden, dass er kein Wort herausbekam. Sie erinnerte Ben an eine Mischung aus Pocahontas und Schneewitchen, wie er sie in den Zeichentrickfilmen von Disney gesehen hatte. Ihr schwarzes Haar war kurz über den Schultern abgeschnitten, ihre Haut leicht braun, aber nicht von der Sonne. Sie trug einen seidenen Mantel zu den schwarzen Pumps, aus dem die Unterarme herausschauten. Auf dem linken befanden sich einige Tattoos, ebenso auf ihren Beinen. Gerade als sich ein Wort auf seinen Lippen hatte formen wollen, spürte er ihre Hand über sein Haar streichen.

„Nur kleine Beule“, stellte sie fest, als sie einen Hinterkopf befühlte. Das tat ein bisschen weh, aber Ben wollte sich nichts anmerken lassen. Also atmete er tief ein, streckte die Brust heraus und verkündete: „Hat gar nicht wehgetan!“

Die Frau lächelte. Ben grinste.

„Ich heißen Mona“, sagte sie schließlich und hielt Ben die Hand hin.

„Ich heiße Ben“, antwortete er stolz und schüttelte die zarte Hand so fest er konnte. Mit dem Widerstand, der dann folgte, hätte er nicht gerechnet. Mona drückte so fest zu, dass er vor lauter Schmerz aufschrie. Als er die Hand wegzog, ließ sie los und lachte. Ben schüttelte beschämt die kleine Hand, um den Schmerz loszuwerden.

„Ich bin stark, weißt du, Kleiner. Männer sind nie drauf vorbereitet, wenn ich so fest zudrücken. Tut mir leid! Das Reflex. Komm, ich pusten…“, versuchte sie Ben zu besänftigen. Der jedoch zog beleidigt die Hand weg und versteckte sie in der Hosentasche. Sein Schmollen erregte Mona noch mehr. Ihr entfuhr ein erniedrigendes „Ohh!“, was Ben noch wütender machte. Grimmig starrte er sie an, dann streckte er die Zunge heraus.

„Das nicht nett sein, Ben! Na gut, wir machen Frieden. Hier, willst du Lollipop?“

Wie aus dem Nichts zauberte sie einen Lollipop mit Erdbeerschmack aus dem Mantel. Ben beäugte das Friedensangebot misstrauisch. So einfach ließ er sich doch nicht kaufen. Aber was macht sie denn? Mona packte den Lolli aus, blickte Ben konzentriert ins Gesicht, zielte und schob ihn ohne Vorankündigung einfach in seinen Mund. Der wusste gar nicht, wie ihm geschah. Völlig verdattert versuchte er zu protestieren, doch das süße Aroma lullte ihn ein. Da wurde er plötzlich ganz sanft und sah Mona etwas verliebt an. Die grinste nur selbstsicher, fasste Ben an der Schulter und sagte: „Jetzt komm! Sag mir, warum du dich verstecken.“ Sie führte den Jungen zum Randstein, wo sie bis eben noch gesessen hatte, ließ ihn Platz nehmen, kramte eine Zigarette aus ihrem Mantel, zündete sie an und setzte sich dann ebenfalls hin. Sie nahm einen tiefen Zug und sah Ben kritisch an.

„Magst du die auch?“, sagte sie auf die Zigarette deutend.

„Neee, meine Mama sagt, die machen alt und hässlich.“

„Bin ich alt und hässlich?!“, fuhr Mona auf. 

„Nein!!!“, gab Ben kleinlaut zu verstehen.

„Bin ich schön?“, stocherte sie weiter, weil sie merkte, wie verlegen der Junge wurde.

Wie aus der Pistole geschossen erwiderte Ben: „Ja, sehr schön!“

„Die schönste Frau, die du kennst?“

„Hmm…denke schon.“

„Du denkst?“

„Nein, du bist die schönste Frau der Welt!“

„Ohh, Kleiner, wie süß ! Du bist guter Junge, oder?“

„Weiß nicht, kann schon sein…“ antwortete Ben beiläufig und malte sich aus, wie ein Kuss auf die Backe von Mona sich anfühlen würde. Anstatt ihn zu küssen, begann die aber nur wieder zu reden. Die Frage, die sie stellte, erwischte Ben eiskalt. Warum er sich hinter der Mülltonne versteckt hatte, wollte sie wissen. Ben tat so, als hätte er sie nicht gehört und fing auf einmal an, seinen Lutscher kritisch zu beäugen, um sie abzulenken. Aber Mona ließ nicht locker. Sie stupste ihn von der Seite in den Bauch und sagte: „Lügner kommen in Hölle!“

„Stimmt gar nicht, die Hölle gibt es nicht!“, konterte Ben selbstsicher. Mona ignorierte seinen Einwand und fragte einfach weiter: „Hast du dich vor Mama versteckt?“

„Nö!“

„Vor Papa?“

„Nö!“

„Vor Polizei?“

„Was? Wieso sollte ich mich vor der Polizei verstecken? Ich hab doch gar nichts gemacht!“

„Oh, doch! Du wolltest die Mädels kucken. Deswegen hast du dich versteckt. Spanner bist du!“

„Hab ich gar nicht!“, versuchte Ben überzeugend ihre These zu widerlegen, merkte aber sofort, wie er rot wurde und drehte schnell den Kopf zur Seite. Verstohlen leckte er an seinem Lolli, die Hofeinfahrt fest im Blick, um einfach davon zu laufen, wenn sie noch mehr Fragen stellen sollte.

„Ich würde Frauen kucken. Sind alle sehr hübsch…nur nicht klug manche. Wenn die Mund aufmachen: Bla Bla Bla!“

Ben fiel erst jetzt auf, dass Mona mit einem Akzent redete. Ihre Aussprache erinnerte ihn an Bogdan aus seiner Klasse, der erst letztes Jahr dazugekommen war. Er wandte ihr wieder seinen Blick zu. Ihre Lippen hafteten gerade an der Zigarette. Es machte Ffffffiih, dann stieg eine blaue Wolke zum Himmel hinauf. Er folgte er mit seinen Augen, bis zu seinem Fenster im zweiten Obergeschoss. Die Jalousien waren noch unten. Mona musste seinem Blick gefolgt sein und bemerkte ganz beiläufig: „Das dein Fenster, oder?“

Ben schielte zur Seite. Woher wusste sie das, fragte er sich. Hat sie ihn etwa die ganze Zeit beobachtet? Würde es jetzt Ärger geben?

„Warum du bist schüchtern, Junge? Wenn ich in deine Alter hier gewohnt, ich würde auch kucken. Alle fragen: Wer sind Mädchen? Was ist für Haus? Warum steht hier? Wer sind Männer, die immer kommen und gehen?“

„Echt?“, stutzte Ben, als wäre es ganz und gar ungewöhnlich, sich für das gelbe Haus zu interessieren.

„So wie deine Augen, du weißt nicht, was passiert hier.“

„Weiß ich wohl!“

„Und was?“

„Also das ist so eine Art Bar, wie die vorne. Nur mit leiser Musik und vielen Frauen, die hier wohnen…“

„Hahahaha!“, prustete Mona los, entzückt über die Ahnungslosigkeit des Jungen. Der wendete sich gekränkt ab, blieb aber sitzen, weil er hoffte, dass Mona ihm endlich sagen würde, wozu das gelbe Haus da war. Als sie endlich fertig war mit Lachen und ein weiteres Mal an ihrer Zigarette zog, verlautbarte er mit einem lauten „Hrmpf“, dass er nicht zufrieden gewesen war mit ihrer Antwort.

„Tut mir leid, aber ich kann nix sagen, was hier gemacht wird. Vielleicht kann ich sagen das: Wegen diese Haus gibt nicht so viele geschiedene Ehen.“

Nun war Ben völlig verwirrt. Was sollte er denn mit dieser Aussage anfangen? Er dachte eine Weile nach, drehte den Lolli ein paar Mal im Mund und zerbiss den Rest schließlich mit einem lauten Knacksen. Monas Augen ruhten derweil auf ihm. Ihr Blick war ihm unangenehm. Aus irgendeinem Grund glaubte er, sie würde ihm ins Ohr schauen und hielt die Hand davor. Sie kicherte. Dann schwiegen die beiden für eine Viertel Zigarette.

Nach eine Weiler glaubte Ben, den Sinn hinter Monas Worten verstanden und das Rätsel um das gelbe Haus endlich gelöst zu haben.

„Also sind die Mädchen Psychologen!“, rief er euphorisch aus. Darauf kam er, weil auch seine Eltern bei einem Psychologen oder so etwas in der Art gewesen waren, bevor sie sich hatten scheiden lassen. Mona hob die rechte Braue und neigte den Kopf leicht rüber, ihre Lippen schon ein wenig geöffnet. Es wirkte so, als wolle sie gleich loslachen. Doch als sie den stolzen Blick Bens sah, entschied sie sich dagegen.

„Die Mädchen ein bisschen Psychologen…stimmt schon.“

„Hä? Wie, ein bisschen? Man kann nicht ein bisschen was sein!“

„Natürlich! Du bist ein bisschen in mich verliebt. Siehst du, bisschen geht.“

Wieder wurde Ben rot. Er hasste ihre freche, schlagfertige Art. Andererseits ein bisschen recht hatte sie mit dem, was sie sagte. Also beschloss er ihr zu glauben. Trotzdem war die Antwort noch nicht ganz zufriedenstellend.

„Was sind sie noch?“

„Wer?“

„Die Mädchen.“

„Wie alt bist du, Ben?“

„Zehn. Aber was hat das damit zu tun?“

„Manche Sachen zu viel für deine kleine Kopf. Erst du verstehen, wenn du 18 bist.“

So oder so ähnlich hatten sich bereits etliche andere Erwachsene herausgeredet, wenn er sie über das Haus hatte ausfragen wollen. Das war das Ass der Erwachsenen. Wenn sonst nichts half, konnten sie diese Karte spielen und die Diskussion für beendet erklären. Es gab so viele Dinge, die Ben erst mit 18 verstehen würde, dass er langsam glaubte, an seinem 18. Geburtstag müsste ihm der Kopf platzen. Wie schafften die das alle nur, erwachsen zu werden?

Mona hatte indes ihre Zigarette zu Ende geraucht – der Stummel war in einem Gully gelandet – und zupfte nun nervös irgendwelche Fusseln von ihrem Mantel. Da weder sie noch Ben etwas zu sagen hatten, ließen sie die Geräusche des Tages zwischen sich treten, die ihr Gespräch bislang unterdrückt hatte. Man hörte nun deutlich das Gurren einer Taube, irgendwo oben auf den Dächern, den Lärm der vorbeifahrenden Autos auf der Straße vorne und ganz leises Stöhnen. Da trat aus heiterem Himmel jemand in die Hofeinfahrt und steuerte direkt auf sie zu. Es war ein großer Kerl mit Glatze im Anzug und riesiger Sonnenbrille, die sein halbes Gesicht bedeckte. Als er das ungleiche Paar sah, wirkt er irgendwie verlegen. Sein Blick haftete an Ben, der ihn ebenfalls anstarrte. Schließlich erkannte er Mona und winkte ihr zu. Dann trat er zu ihnen.

„Na, Mona! Bereit?“

„Für dich immer!“

„Wer ist das Kind? Dein Bengel?“

„Nein, nein, er kein Bengel. Guter Junge. Wohnt in diese Haus da.“

Der Schmierlappen, wie ihn Ben innerlich bezeichnete, drehte sich zu seinem Haus um, nickte und sah dann zu ihm. Mit der rechten Hand zog er die Brille ein Stück runter, zwinkerte Ben zu und schnalzte auf eine sehr unangenehme Weise mit der Zunge. Dann nannte er Ben en einen Glückspilz, zog Mona am Arm hoch und tippte auf seine silberfarbene Uhr.

„Wir haben genug Zeit“, schimpfte Mona. Dann wandte sie sich zu Ben, lächelte ihm freundlich zu und sagte sehr liebevoll: „Wenn du was brauchst, komm einfach her. Bis bald, Ben! Hat mich sehr gefreut.“

„Mich auch, Mona.“

Mister Schmierlappen feuerte mit seiner Hand einen Schuss auf Ben ab und sagte: „Mach’s gut, Junge!“

Als die beiden hinter der Ecke verschwunden waren, zeigte er dem Kerl den Mittelfinger.

Am Abend lag Ben in seinem Bett und dachte an Mona. Von draußen schien schwach das rote Licht von gegenüber durchs Fenster. Seine Mutter kam wie immer pünktlich ins Zimmer, um die Jalousien herunterzulassen. Er beachtete seine Mutter gar nicht, ließ sie ganz ohne Protest das Zimmer abdunkeln. Auf einmal spürte er, wie sich die Matratze an seinen Beinen nach unten senkte, dann strich eine Hand über seinem Kopf.

„Bist du krank?“, drang die Stimme seiner Mutter durch seine Gedanken.

„Ich bin doch nicht krank, Mama. Warum sollte ich krank sein?“, ging er sie an.

„Wer weiß, vielleicht war in der Schule jemand krank. Warum liegst du hier so im Dunkeln?“

„Ich muss nachdenken.“

Sie wurde misstrauisch. „Hat es etwa wieder mit dem Haus da drüben zu tun?“

„Und wenn schon…“, erwiderte Ben genervt und drehte sich zur Seite weg. Er hasste die Geheimnistuerei seiner Mutter, von Mona und all den anderen Erwachsenen, die es nicht für angemessen hielten, anständig mit ihm zu reden. Immerzu gab es Streit deswegen. Anstatt ihn aufzuklären, machten die stets so einen Terz um das Thema. Seine Mutter packte ihn an der Schulter und drehte ihn wieder auf den Rücken, sodass sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Er schielte zur Seite, um ihren Augen nicht zu begegnen.

„Was ist heute passiert? Raus mit der Sprache!“

„Hrmm“, seufzte Ben missbilligend.

„Rede anständig mit deiner Mutter!“, fuhr die ihn an und verpasste ihm einen kleinen Klaps auf den Oberschenkel.

„Was soll’s?“, dachte sich Ben, sie würde es ja eh irgendwann rausbekommen und holte tief Luft, bevor er mit kurzer, abgehackter Stimme sagte: „Hab heut mit einer der Frauen von drüben geredet.“ Als er die Worte ausgesprochen hatte, zog er rasch das Kissen unter seinem Kopf hervor und drückte es auf sein Gesicht. Einen Moment lang passierte nichts. Dann zog eine Hand das Kissen nach unten, bis seine Augen zum Vorschein kamen.

„Du hast was?“, fragte seine Mutter ungläubig.

„Ich hab mit Mona geredet. Von dem gelben Haus mit den roten Fenstern, die ich nie sehen darf.“

Auf einmal bereute er seine Forschheit. Am Blick seiner Mutter erkannte er, dass sich ein Gewitter zusammenbraute, das gleich krachend über ihm losbrechen würde. Mit aller Kraft versuchte er, das Kissen wieder über seinen Kopf zu ziehen, doch es war vergebens. Seine Mutter war viel zu stark.

„Was habe ich dir über das Haus gesagt?“, war die Frage, die die Tirade anführte. Dann ging es weiter. Blitze schossen aus den Augen seiner Mutter auf ihn herab, begleitet von einem beständigen Donnergrollen aus ihrem Mund mit eine bisschen Spuckeregen. Ben ließ alles still über sich ergehen, in Erwartung des letzten Blitzschlags auf seinen Hintern. Doch plötzlich stand seine Mutter auf, brüllte „Bleib hier!“ und stürmte aus dem Zimmer. Kurz darauf knallte die Haustür und er hörte sie energisch die Treppen runterstürmen. „Oh nein!“, dachte Ben, sprang zum Fenster und kurbelte eilig die Jalousien hoch. Tatsächlich, sie war im Hof, stürmte auf das Haus zu. Er wollte ihr nachrufen, doch die Stimme blieb ihm im Hals stecken. Im nächsten Augenblick sah er, wie sie wütend die Klingel mehrmals bis zum Anschlag eindrückte. Dann klopfte sie lautstark und rief irgendetwas. Schließlich ging die Tür auf und sie brüllte erneut los. Doch dann sah sie Ben am Fenster, warf ihm einen vielsagenden Blick zu, trat ins Innere und schloss die Tür hinter sich.

Ben tauchte schnell ab, fuhr die Jalousien herunter, hüpfte aufs Bett und hielt sich die Ohren zu. Trotz allem glaubte er, die gedämpfte Stimme seiner Mütter über den Hof hinweg zu hören. Auf keinen Fall wollte er mit denen da unten tauschen. Endlich stülpte er sich das Kissen über den Kopf, dann noch die Decke. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis das komische Summen, was er für die Stimme seiner Mutter hielt, endlich verstummte und er sie wieder an seinem Bettrand spürte. Erst als er die stickige Luft unter seiner Kissen-Decken-Burg nicht mehr aushielt, entblößte er seinen verschwitzten Kopf und sah direkt in die eiskalten Augen seiner Mutter. Er erstarrte. Ihr Gesicht hatte einen aufgeräumten, aber sehr strengen Ausdruck. Sie sah irgendwie erschöpft aus. Sie hob die Hand, woraufhin Ben sich sofort wegduckte. Doch anstatt ihm eine zu verpassen, erhob sie den Finger und sagte mit heiserer Stimme: „Halte dich von dem Haus fern. Du hast eine Woche Hausarrest. Und jetzt ist Schlafenszeit!“

Ben nickte unterwürfig und zog unwillkürlich die Decke wieder ein Stückchen näher. Seine Mutter nickte, erhob sich vom Bett, lief zur Tür, schaltete das Licht aus und ging raus. Alleine blieb Ben zurück. Obwohl er eigentlich noch auf die Toilette musste, traute er sich nicht, sein Zimmer zu verlassen. Und so schlief er mit drückender Blase und schwerem Kopf erst sehr, sehr spät an.

Das Frühstück am nächsten Morgen war wortkarg. Ben merkte, dass seine Mutter immer noch sauer war, den gestrigen Abend aus offensichtlichen Gründen aber nicht mehr erwähnen wollte. Vielleicht schämte sie sich ja für ihren Auftritt bei den Nachbarn. Jedenfalls beeilte sich Ben sehr mit seinem Müsli und schlang so sehr, dass er sich mehrmals verschluckte. So war er zehn Minuten früher fertig als sonst, beschloss aber dennoch schon loszulaufen und vorne an der Ecke auf seinen Kumpel Cem zu warten. Zum Abschied bekam er immerhin noch einen Kuss auf die Stirn, was ihn wieder etwas versöhnlicher stimmte. Er wollte seine Mutter nicht traurig sehen, dafür hatte sie schon zu viel durchgemacht mit seinem Vater und der Scheidung. Im Treppenhaus versuchte er, besonders leise zu sein, weil er glaubte, dass die Frauen in den Wohnungen unten, also speziell Mona, wachwerden könnten, um ihn wegen gestern zu konfrontieren. Er schaffte es unbemerkt an den beiden geschlossenen Türen vorbei. Doch an der Eingangstür blieb er stehen. Das gelbe Haus thronte heute bedrohlich über ihm, als würde es ihn beobachten. Ben blieb für einen Moment im Türrahmen stehen, bevor er losrannte. Am Eck vorbei, durch die Hofeinfahrt, weiter an der Bar zur Linken entlang und vor bis zur Straße, wo er sich hinter der Häuserecke versteckte. Dort vertrieb er sich die Zeit, bis Cem kam, indem er Pokemon Go auf seinem Smartphone spielte. Als der endlich aufkreuzte, liefen die beiden in Richtung Schule und Ben vergaß die Ereignisse des gestrigen Abends über Pokemon-Neuigkeiten und nicht gemachte Hausaufgaben.

Nach der Schule saß Ben wieder alleine zu Hause. Obwohl es noch taghell war, hatte er die Jalousien in seinem Zimmer pflichtbewusst bis ganz nach unten gezogen. Seine Hausaufgaben hatte er bereits erledigt. Jetzt lag er im Wohnzimmer und schaute sich einen Anime im Fernsehen an. Die bunten Figuren waren drauf und dran, sein schlechtes Gewissen auszulöschen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ben schrak auf. Eigentlich klingelte es nie, wenn er allein zuhause war. Und von seiner Mutter hatte er keinerlei Anweisungen erhalten, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten hatte. Es setzte sich aufrecht hin und lauschte. Vielleicht hatte er sich ja getäuscht, die Klingel des Nachbarn für die ihre gehalten. Aber dann ertönte das nervöse Surren erneut. Dieses Mal länger und energischer. Ganz eindeutig, es war nicht die Klingel des Nachbarn. Ben sprang leise vom Sofa und schlich auf Zehenspitzen durch den Flur zur Tür. Er konnte gerade so durch den Spion schauen. Auf der anderen Seite stand eine Frau, in deren Ausschnitt er jetzt direkt hineinsehen konnte. „Oh, oh“, entfuhr es im unwillkürlich und vor lauter Scham stolperte er beinahe über seine eigenen Füße. Dabei hatte der Boden etwas geknackst. Die Frau vor der Tür musste das gehört haben, denn sie klopfte und sagte: „Ich weiß, dass du bist hier.“

Es war Monas Stimme, Ben erkannte sie sofort wieder. Wie könnte er diese Stimme je vergessen. Entgegen seiner Befürchtung klang sie gar nicht wütend. Im Gegenteil, sie war sanft und versöhnlich. Trotzdem öffnete Ben nicht sofort die Tür, rief stattdessen in den Flur hinaus: „Ich darf niemanden reinlassen.“

„Mich schon. Wir uns kennen.“

Ben dachte nach. Ihr Argument war schlüssig, die beiden kannten sich tatsächlich. Demnach war sie keine Fremde und er konnte die Tür öffnen. Dessen ungeachtet hakte er vorsorglich die Sicherheitskette ein, bevor er die Tür einen Spalt weit aufschob. Mona beugte sich zu ihm herunter und lächelte ihn an.

„Hast du Angst vor liebe Mona?“, fragte sie belustigt.

„Bitte töte mich nicht. Tut mir leid wegen meiner Mama.“

„Ist gut, Junge. Sie hat mit Chefin gestritten. Ich war in Zimmer und hab nix mitbekommen.“

„Aber die Chefin kann doch gar nichts dafür.“

„Chefin ist gute Frau. Sie nicht ihre Mädchen verrät. Hat gesagt, sie weiß nicht, wer war. Keine Mona hier, sie gesagt.“

„So?“

„Kannst mir glauben, Junge.“

„Na gut. Was möchtest du denn?“

„Ich will dich sehen. Ich mag kleine Mann Ben. Hab Pause und nix zu tun.“

Ben verschlug es die Sprache, er wurde ganz rot im Gesicht. Sein Herz begann aufgeregt zu schlagen. „Hmhm“, räusperte er sich, um die Nervosität zu überspielen und sagte dann mit ganz wackeliger Stimme: „Komm rein!“

Er löste die Kette und ließ Mona eintreten. Die trug wieder diesen schwarzen Mantel, dazu ein paar pinkfarbene Schlappen, die Haare waren zu einem Dutt auf dem Kopf zusammengebunden. Sie sah fantastisch aus, befand Ben. Natürlich war er viel zu schüchtern, um ihr das zu sagen. Also ging er voraus und zeigte ihr die Wohnung. „Da ist die Küche und das Wohnzimmer, dort hinten das Zimmer meiner Mutter, daneben das Bad und da, in dem kleinen Zimmer, wohn ich.“

Sein Zimmer war wirklich sehr klein, mehr als ein Bett, Schreibtisch und Schrank passten nicht hinein. Mona ließ sich auf dem Bett nieder. Ben dachte für einen Moment nach, ob er sich zu ihr setzen sollte, beschloss dann aber, dass sich das nicht gehörte und nahm stattdessen auf dem Schreibtischstuhl Platz. Monas Blick ruhte erwartungsvoll auf ihm, eine Spannung, die er nicht aushielt und daher schnell zur Seite wegschaute.

„Ich haben gelogen“, platzte es Mona plötzlich heraus.

„Wie gelogen?“, wollte Ben wissen und sah sie direkt an.

„Deine Mama hat mich angeschrien. Sehr laut, sehr lange. Aber trotzdem ich bin hier.“

„Ja, und warum?“

„Weiß nicht, ich mag nicht Verbot.“

„Was für ein Verbot?“

„Dich nicht sehen.“

„Dann bekommst du Ärger von meiner Mama und deiner Chefin, wenn die dich erwischen! Und ich auch…“

„Ist mir egal, was sollen machen? Wenn ich rausfliegen, ich gehen zu anderen Ort. Und du, großer Junge. Niemand kann dir machen was.“

Stolz blähte sich Ben auf, um zu zeigen, was für ein Prachtkerl er war. Mona grinste frech, dann sagt sie etwas traurig: „Wenn ich mal Sohn habe, er soll sein wie du.“

„Hast du keinen Freund?“, fragte Ben erwartungsvoll.

„Nein, nix Freund. Immer Arbeit, Arbeit. Schon bald dreißig und nix Mann, nix Kind, nix Haus. Dafür viel Geld…“

Das alles machte für Ben einfach keinen Sinn, die ganze Situation kam ihm vor wie ein zu fest gezurrter Knoten im Schuh, der sich nicht lösen ließ und den nur Erwachsene wieder aufbekamen. Vielleicht hatten die recht mit ihren blöden Sprüchen. Vielleicht war er einfach noch nicht alt genug, um zu verstehen, was es mit dem Haus mit den roten Fenstern auf sich hatte. Was er aber ganz gut verstand, war, dass Mona eine Traurigkeit in sich trug und er irgendwas damit zu tun hatte. Wenn er das Rätsel schon nicht lösen konnte, so doch wenigstens Mona aufheitern. Das Allheilmittel für ihn und seine Kumpels ist immer noch Zocken. Dabei kann man einfach alles vergessen. Entschlossen hüpfte Ben vom Stuhl und streckte Mona die Hand hin. „Komm“, sagte er, „wir zocken ne Runde Playsi!“

„Okay?“, erwiderte Mona ahnungslos und folgte ihm, seine kleine Hand haltend.

Im Wohnzimmer wies er sie an, auf der Couch Platz zu nehmen, holte aus der Schublade des Fernsehschranks zwei Controller, schaltete die Playstation ein, tauschte GTA gegen Borderlands 3 und setzte sich dann ebenfalls. Während das Spiel lud, bemerkte Mona, dass sie gar nicht spielen konnte. Ben meinte, dass das schon in Ordnung sei, sie müsse eigentlich nur auf die Bösen schießen mit dieser und jener Taste und er den Schwierigkeitsgrad auf ganz leicht stellen würde. Sie nickte. Und schob bald ballerten sich die beiden durch Horden von durchgeknallten Wüsten-Rowdies und Monstern. Je besser Mona wurde, desto mehr Spaß fand die an der Schießerei.

„Das macht Spaß!“, rief sie ganz aufgeregt, als sie gerade ein Riesenmonster zur Stecke gebracht hatte. Ben lächelte nur müde über ihre kindliche Begeisterung. Sie sollte das Spiel mal auf normalem Schwierigkeitsgrad probieren, dachte er zynisch. Plötzlich trat ihm ein süßlicher Geruch in die Nase. Mona roch unglaublich gut, das war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen. Da kapierte er, was hier gerade eigentlich vor sich ging. Er spielte mit einer der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, Playstation wie mit einem seiner Kumpels, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ihn überkam ein herrliches Gefühl von Stolz und Zufriedenheit und tief in seinem Magen regte sich noch etwas anderes, das er so noch nie gefühlt hatte. Leider begann die perfekte Welt schon bald wieder zu bröckeln, denn Mona hatte nur eine halbe Stunde Pause. Bevor sie ging, versprach sie Ben wieder zu kommen. Als sie weg war, riss er alle Fenster in der Wohnung auf, um ihren Duft, der noch schwer in der Wohnung lag, herauszulüften. Schließlich sollte seine Mutter nicht mitbekommen, dass sie hier gewesen war.

Ben wartete seit diesem Ereignis jeden Tag auf Monas Rückkehr, doch wartete er vergebens. Sie war nicht wiedergekommen. Aus Tagen wurden Wochen, bis die sich zu einem Monat addierten und Ben die Hoffnung schließlich aufgab, diese mysteriöse Frau noch einmal zu sehen. Eines Tages hatte er eine der anderen Frau aus dem gelben Haus im Flur getroffen und sich nach Mona erkundigt. Die aber hatte nur gemeint, sie sei wahrscheinlich nach Hause gefahren oder mache irgendwo auf der Welt Urlaub. Das anfängliche Gefühl von Zuneigung wich allmählich Zorn. Er konnte sich nicht erklären, was in ihm vorging. Nicht einmal das Rätsel der roten Fenster konnte ihn nun mehr begeistern. Er ging völlig gleichgültig an dem gelben Haus vorbei und zog Punkt 20:00 Uhr die Jalousien herunter. Dann irgendwann interessierte er sich wieder mehr für Pokemon und Minecraft und GTA, anstatt für Mona oder sonstige Frauen.

Es war mitten im Sommer. Ben kam von der Schule nach Hause und lief in Gedanken versunken durch die Hofeinfahrt, als ihm plötzlich ein vertrauter Duft in die Nase stieg. Süßlich, betörend und seltsam vertraut. Und dann sagte aus heiterem Himmel eine Stimme seinen Namen. Er zuckte vor Schreck zusammen und sah sich um. Im Hof war niemand zu sehen. Wahrscheinlich nur Einbildung, eine Erinnerung, hervorgerufen durch dieses dämliche gelbe Haus. Doch dann erklang erneut die Stimme, dieses Mal so klar, dass Ben keine Zweifel an ihrer Echtheit mehr hegte. Da sah er nach oben und erblickte sie, diese wunderbaren braunen Augen, die er sich zu vermissen so sehr verboten hatte. Plötzlich spürte er ein stechendes Gefühl in seinem Bauch, spürte Tränen in seine Augen schießen. Hastig riss er sich zusammen, doch etwas sagen konnte er nicht. Er stand einfach nur da und starrte Mona mit geöffnetem Mund an.

„Du kucken wie Männer, wenn ich fertig bin mit ihnen!“, sagte Mona schließlich mit einem verheißungsvollen Lächeln.

„Was?“, stotterte Ben.

„Ach nichts! Hab dich vermisst, Junge. Hier fang, ich haben Geschenk für dich!“

Ben konnte den Gegenstand, der auf ihn zugeflogen kam, gerade noch mit der rechten Hand fangen, bevor er sein Gesicht getroffen hätte. Es war eine kleine Schachtel in Geschenkpapier eingewickelt. Ehe er etwas erwidern konnte, sagte Mona, sie habe jetzt keine Zeit und würde später vorbeikommen. Dann knallte sie das Fenster zu und war weg. Der kleine Ben war völlig verwirrt. Er hätte mir allem gerechnet, aber nicht damit. In seinem Inneren herrschte nun ein heilloses Chaos. Und was war nur in der Schachtel?

Als er in der Wohnung angekommen war, verschwand er rasch in seinem Zimmer, schloss die Tür hinter sich zu und riss ungeduldig sein Geschenk auf. Er staunte nicht schlecht, als er den Inhalt erblickte: Eine Steinschleuder samt zwei Zentimeter dicken Stahlkugeln als Geschosse. „Wie cool ist das denn?“, sagte er zu sich selbst und testete sofort die Durchschlagskraft seines neuen Spielzeuges, indem er einige Kugel in sein Kissen schoss. Die Steinschleuder hat Wums und war ganz sicher kein Spielzeug für Kinder. Umso größer war Bens Freude, eine derartige Waffe zu besitzen. Und so verbrachte er die nächsten Stunden damit, Kugel um Kugel in sein Kissen zu schießen, auf Spielfiguren zu zielen oder seinen neuen Lieblingsgegenstand einfach nur anzusehen. Irgendwann klingelte es an der Tür. Ben wusste genau, wer das war. Als er aufmachte, fiel er Mona direkt in die Arme, um sich sehr überschwänglich für sein Geschenk zu bedanken. Vergessen war der Groll, den er die letzten Wochen gegen sie gehegt hatte. Schließlich ließ er seine Besucherin eintreten. Sie nahmen auf der Couch Platz und sahen sich erst mal eine Weile stillschweigend in die Augen. Es war Ben, der als erster die Stille unterbrach.

„Wo warst du denn die ganze Zeit?“, wollte er wissen.

„Ich haben Urlaub gebraucht. Musste weg von Arbeit, war Zuhause und in Frankreich am Meer. Jetzt ich muss wieder arbeiten.“

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Weil ich…“, begann sie, beendete ihren Satz aber nicht. Ihr Gesicht verzog sich plötzlich zu einer traurig nachdenklichen Miene, während sie ihren Arm festhielt, als würde er schmerzen. Da fiel Ben ein Tattoo auf ihrem Unterarm auf, das neu sein musste. Letztes Mal hatte sie es noch nicht gehabt.

„Was heißt das da?“, fragte er, indem er auf das Tattoo deutete.

„Free the body of the bondage of mind“, las sie den Satz mit einem melancholischen Ton vor, während sie mit der Hand über die Stelle strich.

„Was heißt das?“

„Mein Deutsch nicht so gut, aber heißen sowas wie: Befreie Körper von Verstand.“

„Häh? Warum sollte man das machen, dann ist man doch ein Zombie?“

Über so viel Naivität musste Mona schmunzeln. Doch dann wurde ihr Gesicht wieder nachdenklich und sie sagte: „Verstand weiß Dinge immer, macht Schmerzen im Körper, obwohl nicht mehr passiert. Du nicht verstehen können. Besser ist, wenn du nicht weißt. Mein Job nicht immer leicht. Gibt es viele Arschlöcher von Mann, die Frauen behandeln wie Stück Fleisch.“

Bei dieser Aussage musste Ben unweigerlich an den Schmierlappen denken, der Mona bei ihrer ersten Begegnung ins gelbe Haus begleitet hatte. Sicher hatte das irgendwas mit ihm zu tun. Der Typ war zu einhundert Prozent ein Arschloch. Er ertrug es nicht, Mona so zu sehen. Also beschloss er, sie aufzuheitern.

„Wenn es mir schlecht geht, dann spiele ich Playsi und schieße einfach ein paar Monster tot. Willst du mitmachen?“

„Ja“, sagte Mona mit einem dankbaren Lächeln.

Ben schmiss die Playstation an und sie ballerten sich die restlichen zwanzig Minuten von Monas Pause durch Horden von ekelerregenden Monstern, an denen sie ihren ganz Frust und Zorn auslassen konnte. Als es Zeit war für Mona war zugehen, versprach sie ihm hoch und heilig, dieses Mal wieder zu kommen. Nachdem sie weg war, lüftete er wieder die komplette Wohnung durch und konnte es kaum erwarten, ins Bett zu kommen, damit der nächste Tag so schnell wie möglich anbrechen konnte.

Es war mitten in der Nacht, als ein paar dumpfe Stimmen Ben aus dem Schlaf erwachen ließen. Zunächst glaubte er, es wären nur wieder einige betrunkene Idioten aus der Bar unten, die zum Pinkeln oder Kotzen in den Hinterhof verschwanden. Doch je wacher er wurde, desto bekannter kam ihm eine der Stimmen vor. Als er schließlich bei vollem Bewusstsein war, fiel ihm auf, dass die Personen sich stritten. Gerade laut genug, um einige Wortfetzen mitzubekommen. „Hure“ und „Schlampe“ hörte er eine männliche Stimme voller Wut sagen. Eine leisere Frauenstimme hielt mit „Verpiss dich!“ dagegen. Da wurde ihm klar, dass es sich um Monas Stimme handelte. Sein Herz begann auf einmal ganz schnell zu schlagen. An Einschlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Mit leisen Schritten schlich er ans Fenster, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dann lauschte er einen Moment, bevor er ganz langsam die Jalousie hochzog. Die Streitenden schienen nichts davon mitzubekommen, denn sie warfen sich weiterhin schlimme Worte an den Kopf. Es verwunderte Ben, dass außer ihm noch niemand wachgeworden war. Andererseits waren die Leute hier viel gewohnt aufgrund der Bar, der Straße und des gelben Hauses. Vielleicht war Ben auch nur deshalb aufgewacht, weil er Monas Stimme gehört hatte. Endlich hatte es Ben geschafft, die Jalousie vollständig einzuziehen und konnte nun das Fenster öffnen. Vorsichtig streckte er den Kopf nach draußen.

Dort sah er sie, in ihrem Mantel. Sie stand mit dem Rücken zur Wand. Vor ihr, mit dem Rücken zu ihm, ein glatzköpfiger Mann, der sie wüst beschimpfte und anschrie. Ben bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn der Kerl ihr was antun würde? Sollte er seine Mutter wecken oder lieber gleich die Polizei rufen? Aber wie war noch gleich deren Nummer? Konnten Kinder überhaupt die Polizei verständigen? Würde man ihn ernst nehmen? Wie gelähmt stand er am Fenster und verfolgt gebannt die Szenerie im Hof unten. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Kerl da war der Schmierlappen, der ihm einst zugezwinkert hatte! Was wollte der nur von Mona? Und von was redeten die da eigentlich?

Plötzlich schlug die Stimmung um, der Mann machte einen Schritt auf Mona zu und packte sie gewaltsam am Arm. Er war außer sich vor Zorn und schrie sie sie nur noch an. Und dann geschah es: Er packte Mona mit beiden Händen am Hals und würgte sie brutal. Ben rutschte das Herz in die Hose, Adrenalin schoss ihm ins Blut, Tränen in die Augen. Er wollte schreien, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Nur ein klägliches Ächzen entfuhr seiner Kehle. Von da an ging alles ganz schnell. An das, was ab diesem Augenblick geschehen war, konnte er sich später nur noch in Bruchstücken erinnern. Mechanisch nahm er seine Zwille vom Schreibtisch, lud sie mit einer Metallkugel und lief zum Fenster. Er zielte auf den kahlen Hinterkopf des Angreifers, spannte die Gummiseile mit ungeahnter Kraft so weit er konnte und ließ die schwere Metallkugel durch die Luft sausen. Ein dumpfer Schlag war zu hören, als sie auf ihr Ziel einschlug. Volltreffer!

Der Kerl ließ von Mona ab und taumelte nach hinten. Die aber nutzt diese Gelegenheit, um einen ihrer Schuhe ausziehen und damit brutal auf den benommenen Glatzkopf einzuprügeln. Ben sah alles mit an. Das Arschloch ging unter den Schlägen schließlich zu Boden, wo er bewusstlos liegen blieb. An seinem Hinterkopf rann das Blut in Strömen auf den grauen Asphalt. Erschöpft und nach Luft ringend sackte Mona neben ihm auf die Knie und sah zu Bens Fenster hoch. Ihr Blick drückte zugleich Dankbarkeit und Reue aus. Dankbarkeit, dass er ihr gerade wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Reue, dass er das mit ansehen hat müssen. Geistesgegenwärtig hob sie noch die Metallkugel vom Boden auf und schmiss sie in den Gully neben sich. Dann brache sie in Tränen aus, ihr Schluchzen erfüllte den Hof.

Von da an überschlugen sich die Ereignisse. Bald waren alle Fenster zum Hof hin hell erleuchtet, überall ragten Köpfe heraus, um nachzusehen, was passiert war. Kurze Zeit später ertönten die Sirenen der Polizeiwagen. Mehr und mehr Menschen strömten in den Hinterhof, Polizisten, Sanitäter, Schaulustige… Doch all das konnte Ben sich nicht mehr mit ansehen. Seine Mutter hatte ihn vom Fenster weggezerrt und im Wohnzimmer auf die Couch gesetzt. Dort hockte er jetzt immer noch, in eine Decke gepackt, mit einem Tee in der Hand, während seine Mutter von seinem Fenster aus dem Treiben im Hof zusah. Ben glaubte, jeden Moment einen Polizisten vor sich stehen zu haben, der ihn in Handschellen abführen würde, weil er einen Menschen umgebrachte hatte. Die Tatwaffe lag noch dort in seinem Zimmer auf dem Schreibtisch. Doch so endlos die Nacht auch war, nicht ein Polizist hatte mit ihm reden wollen. Nur mit seiner Mutter, ganz kurz unten im Hof.  

Am nächsten Morgen musste Ben nicht in die Schule und seine Mutter ging nicht zur Arbeit. Sie war nur am Telefonieren den ganzen Tag und war zwischendrin so lieb und fürsorglich wie schon lange nicht mehr. Kein Wort verlor sie über die Steinschleuder auf seinem Schreibtisch. Ben ließ alles geduldig über sich ergehen, er harrte der Dinge, die da kommen würden. Er legte sein Schicksal in die Hände der Erwachsenen und hoffte, sie würden das Richtige tun. Am darauffolgenden Tag, in einem unbeobachteten Moment, sah er die Schlagzeile in der Tageszeitung: „Prostituierte schlägt Freier mit High Heel bewusstlos“ Hastig überflog er den Artikel, doch darin stand weder etwas von einem kleinen Jungen noch von einer Steinschleuder geschrieben. Vielleicht hatte Mona ihn gedeckt?

Auf jeden Fall wusste er jetzt, was das Geheimnis des Hauses mit den roten Fenstern war. Auch wusste er, was Mona dort getan und was es mit dem Angreifer auf sich gehabt hatte, doch so wirklich verstand er es nicht. Wohl wusste er aber, dass dieses Geschehnis gravierend genug war, um das Leben aller Beteiligten unwiderruflich zu verändern. Das gelbe Haus wurde geschlossen. Die Mädchen verschwanden. Er und seine Mutter zogen so schnell wie möglich von dort weg, in eine große, schöne Wohnung im Osten der Stadt. Aus unerklärlichen Gründen hatte seine Mutter eine größere Geldsumme erhalten, die ihren Geldsorgen ein Ende bereitet. Ben musste jetzt zweimal in der Woche zu einer Therapeutin. Sie hatte ein schönes Büro mit vielen Spielsachen und war sehr freundlich zu ihm. Er wusste, dass er ihre Hilfe brauchen würde, um über alles hinwegzukommen. Er wusste, dass es Zeit brauchen würde. Er wusste, dass die Erwachsenen recht hatten. Er wusste, dass er noch zu jung war, um alles zu verstehen. Er wusste jetzt so vieles, bis auf das eine: Was war mit Mona geschehen?

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Von Lukas Böhl

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