Wir beide wussten nicht

Es war eine dieser Nächte, die viel zu schnell enden. Und weil ich sie noch ein bisschen in die Länge ziehen wollte, nahm ich einen großen Umweg nach Hause."

Der Weg, für den ich mich entschied, führt am Fluss entlang durch ein Wohngebiet, das nahtlos in ein Industriegebiet übergeht und schließlich in Äckern mündet. Dort, weit draußen gelangt man über eine kleine Fußgängerbrücke wieder zurück in die Stadt.

Es war mild geworden, aber noch nicht kalt. Die kühle Luft half mir, mich auf die Schönheit der Nacht zu fokussieren. Alles lag so still und verlassen da. Nur vereinzelt waren noch ein paar Menschen und Autos unterwegs. Ich sog alle Eindrücke in mich auf, um möglichst lange von diesen besonderen Erinnerungen zu zehren.

Nach einer Weile gelangte ich an eine Bushaltestelle. Schon von weitem hatte ich gesehen, dass dort jemand saß. Wahrscheinlich nur ein Betrunkener, der seinen Rausch ausschläft, hatte ich zunächst gemutmaßt.

Doch je näher ich kam, desto weniger achtete ich auf die Silhouette der Person, sondern mehr auf die Geräusche, die sie von sich gab. Sie war unüberhörbar am Schluchzen, was mich nervös werden ließ. Eigentlich hatte ich nicht gedacht, heute nochmal mit jemandem interagieren zu müssen.

Als ich aber vor der Bushaltestelle stehen blieb, gab es kein Zurück mehr. Jetzt erst erkannte ich, dass es sich nicht um einen Betrunkenen handelte, sondern um ein junges Mädchen von vielleicht 20 oder 21 Jahren, das auf die Bank gekauert saß und mit verweintem Gesicht auf ihr Smartphone starrte.

Sie war von unten bis oben in Designerklamotten gekleidet. Neben ihr stand eine große Reisetasche mit einem bekannten Logo. Ihre ganze Erscheinung raubte mir für einen Moment die Worte. Sie hatte mich indes noch nicht bemerkt. So blieb mir etwas Zeit, um mich zu sammeln, bevor ich sie fragte, ob sie Hilfe braucht.

Langsam neigte sich ihr Kopf nach oben. Vielleicht hatte sie mich doch bemerkt, sonst hätte sie sich wahrscheinlich erschrocken. Mit glasigen braunen Augen sah mir direkt ins Gesicht. Dann scannte sie mich von oben nach unten und von unten nach oben ab. Sie überlegte kurz und sagte schließlich sehr leise: „No sé.“

Der Spanischunterricht lag zwar einige Jahre zurück, aber das verstand ich noch. Mit aller Mühe kratzte ich ein paar spanische Vokabeln zusammen und versuchte sie erneut zu fragen, ob sie Hilfe braucht.

Dieses Mal sah sie mich etwas länger und mit einem prüfenden Blick an. Eine Antwort aber erhielt ich nicht. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor mir. Ich ging in die Knie und lächelte. Dann fragte ich sie erneut in meinem gebrochenen Spanisch, ob ich ihr helfen kann. Doch sie sagte nur wieder „No sé.“

Sie sprach sehr leise mit einer sanften, weichen Stimme. Ihr Gesicht war hübsch, doch es war ausgezehrt. Was auch immer sie durchgemacht hatte, es hat seine Spuren hinterlassen. Als sie merkte, dass ich ihr nichts Böses will, lächelte sie ebenfalls.

Auf ihr Lächeln folgte ein kleiner Redefluss, dem ich kaum folgen konnte. Dabei zeigte sie immer wieder auf ihr Smartphone und deutete mit dem Kopf die Straße hinunter. Ich verstand nur einzelne Wörter, die zusammengenommen aber keinen Sinn ergaben. Als sie fertig war, lächelte ich verlegen. Dieses Mal war ich derjenige, der sagte: „No sé.“

Das brachte sie kurz zum Lachen. Allerdings nur für einen Augenblick. Die Traurigkeit kehrte direkt wieder zurück. Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ihr in Spanisch mitzuteilen, dass alles gut sei. Sie hob die Augenbrauen, als würde sie mich nicht verstehen oder meine Worte keinen Sinn ergeben.

Daraufhin blickten wir uns eine Weile still in die Augen, als würden wir darin die Antworten finden, die wir beide suchten. Irgendwann schmerzten meine Knie und ich deutete an, dass ich mich neben sie setzen möchte. Sie nickte.

Ich interpretierte das als ein Ja und ließ mich auf dem Sitz neben ihr nieder. Sie schaute mich lange von der Seite an und atmete schließlich resigniert aus. Dann blickte sie wieder nach vorn über die Straße hinweg auf den Fluss, der nahezu geräuschlos an uns vorbeifloss.

Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, schaute ich ebenfalls zum Fluss hinüber. Und so saßen wir beide nun da und starrten vor uns in die Nacht. Ab und zu sagte einer von uns ein paar Worte, die der andere nicht verstand, aber mit stillem Einverständnis in sich aufnahm.

Als es kälter wurde, begann das fremde Mädchen zu frösteln. Ich gab ihr meine Jacke. Sie sagte kaum hörbar „Gracias“.

Nachdem wir eine ganze Weile ohne ein weiteres Wort zu sagen dagesessen hatten, hörte ich sie irgendwann leise und gleichmäßig atmen. Ich schaute rüber und sah, wie ihr Kopf gegen die Glasscheibe gelehnt war und ihre Hände das Smartphone aus ihrem festen Griff gelöst hatten. Es war auf ihren Schoß gerutscht.

In diesem Moment fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Inzwischen war es kalt geworden und ohne Jacke begann ich leicht zu zittern. Ein bisschen bereute ich es, dass ich den Umweg eingeschlagen und nicht auf direktem Weg nach Hause gelaufen war. Aber dann ergriff mich die Hilflosigkeit dieses Mädchens wieder und ich dachte, es war alles so gekommen, wie es sollte.

Auf dem Dach der Bushaltestelle hörte ich plötzlich einige dicke Regentropfen aufschlagen. Dann sah ich, wie sich auch auf dem Asphalt kleine Punkte bildeten. Ehe ich es mir versah, ergoss sich ein monsunartiger Regenschauer über die Straße.

Zu meinem Glück war das Haltestellenhäuschen an den Seiten und von hinten mit einer Glaswand umzogen. Ich zog die Füße auf den Sitz und sah dem Regen zu. Meine neue Bekanntschaft bekam davon überhaupt nichts mit. Sie schlief so seelenruhig, dass man hätte meinen können, sie hätte gerade einen Wellnesstag hinter sich.

Durch den Regen wurde es noch kälter. Ich zog die Beine so nah ich konnte an mich und umschloss sie mit beiden Armen. Meinen Kopf legte ich auf meinen Knien ab und sah dem Regen zu.

Das monotone Prasseln auf dem Dach über mir und dem Asphalt sowie die Mattigkeit eines langen Tages machten es mir immer schwerer, die Augen offen zu halten.

Eine Weile noch konnte ich mich vom Einschlafen abhalten, doch irgendwann übermannte mich die Müdigkeit. Meine Augen fielen zu.

Ein gleichmäßiges Motorbrummen weckte mich wieder auf. Ich schreckte hoch und sah mich um.

Es war immer noch dunkel, der Regen donnerte weiter erbarmungslos auf die Erde. Vor mir stand ein Bus mit geöffneter Tür. Der Fahrer rief mir zu, ob wir mitfahren wollen.

„Warum wir?“ Dann fiel es mir wieder ein. Sofort suchte ich das Mädchen, das vorhin so unbekümmert neben mir geschlafen hatte. Sie war noch da.

Anders als ich, kehrte sie erst jetzt aus dem Reich der Träume zurück. Erschrocken schaute sie zunächst mich an, dann den Bus. Plötzlich rief sie irgendetwas auf Spanisch und sprang aufgeregt auf.

Sie packte ihre Tasche und rannte los. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie dem Regen ausgesetzt, doch es reichte, um ihr schwarzes Haar ordentlich einzunässen.

Als sie im Bus stand, drehte sie sich nochmal um und fragte auf Spanisch, ob ich komme. Ich sagte auf Deutsch, ich müsse in die andere Richtung. Sie schüttelte den Kopf und sagte nur wieder „No sé.“

Dann sagte sie irgendetwas auf Spanisch, das ich nicht verstand. Wieder fiel mir nur ein „No sé.“ Wir beide wussten nicht. Also schauten wir uns noch einmal tief in die Augen, bevor sie nach hinten lief und sich in die letzte Reihe setzte.

Der Busfahrer fragte mich erneut, ob ich nicht wenigstens mit bis zum Busbahnhof fahren wollte. Aber ich wusste nicht, wo ich hin wollte. Als er kapierte, dass er keine Antwort mehr bekommen würde, schloss er die Tür und fuhr los.

Jetzt stand auch ich auf, weil ich sie ein letztes Mal sehen wollte. Als der Bus vorbei fuhr, kreuzten sich unsere Blicke. Und als er mich hinter sich gelassen hatte, drehte sie sich auf ihrem Sitz um und blickte mich mit ihren traurigen Augen an.

Sie hob die rechte Hand zum Abschied. Und ich winkte zurück. Der Bus fuhr weiter, sie wurde immer kleiner. Und als er schließlich um eine Ecke bog, war sie weg. Ich verstand nicht, was gerade passiert war. Sie war weg und mit ihr meine Jacke.

Meine Jacke war weg.

Aber was für eine Rolle spielte das schon?

Denn …

sie war weg.

Von Lukas Böhl

Hallo, mein Name ist Lukas Böhl. Ich bin der Autor hinter dem Sinnblock. Falls du mehr über mich erfahren willst, schau mal hier vorbei. Falls du Fragen oder Anregungen zur Seite hast, schreib mir einfach! :)