Der Seelensucher

Am Ende meiner Straße führt ein kleiner Weg in den Wald. Folgt man diesem Weg gelangt man bald an die Einmündung einer alter Zufahrtsstraße, die nicht mehr genutzt wird. Wen der Wildwuchs, der aufgerissene und mit Dreck und toten Blättern überdeckte Asphalt und ein paar umgefallene Bäume nicht stören, der kann dort hinein gehen. Die Straße führt etwa einen Kilometer in den Wald hinein zu einem verlassenen Steinbruch, der mit Bauzäunen abgesperrt ist. Vor dem Steinbruch ist eine große Wendeplatte mit einem alten Haltestellenhäuschen. Ein paar der Scheiben wurden eingeworfen, aber das Dach und die aus Beton gegossene Bank haben den Launen der Natur bislang standgehalten."

Eines Tages saß ich auf dieser Bank, hatte dort Schutz vor einem einsetzenden Regenschauer gesucht und beobachtete die schieren Wassermassen, die vor mir auf den Asphalt fielen. Hätte ich nicht gewusst, dass es hinter den Bäumen eine Stadt mit beheizten Zimmern gab, hätte ich diese zwei Quadratmeter für die letzte verbliebene trockene Landmasse auf der Erde gehalten. Der Regen hat die Eigenschaft, die Gedanken von allem wegzunehmen, auf das er fällt. Und so lag mein Fokus ganz in mir. Für eine Weile war es ganz still.

Doch plötzlich spürte ich ein Kribbeln auf meiner Hand. Ich zog den Jackenärmel zurück und sah, dass dort etwas saß. Es war nicht größer als eine Ameise. Schon wollte ich das Insekt wegpusten, als mir auffiel, dass es sich um etwas anderes handelte. Ich führte die Hand zu meinen Augen, denen sich selbst bei ganzer naher Betrachtung des Wesens nicht trauen wollte. Da stand ein winziges kleines Männlein auf meiner Hand, das mir zuwinkte. Es sah aus wie ein Strichmännchen, das sich von einem Stück Papier erhoben hat und zum Leben erweckt war. Das kleine Männlein gestikulierte mit seinen Armen, zeigte immer wieder auf sein nicht vorhandenes Ohr.

Was ist das und was will es von mir?

Nach kurzem Überlegen ging mir ein Licht auf. Ich zog die Hand ganz nahe an mein linkes Ohr heran. Dann spürte ich, wie das Männlein einen Satz machte und in meinen Gehörgang sprang. „Hörst du mich jetzt?“, rief eine piepende Stimme.

„Ja!“, antwortete ich erstaunt. „Wer oder was bist du?“, fragte ich den Mann in meinem Gehörgang.

„Ich bin ein Seelensucher. Wenn du willst, finde ich deine Seele für dich. Du scheinst sie ja verloren zu haben.“

„Meine Seele willst du suchen? Meine Seele ist nicht verschwunden. Sowas gibt es doch überhaupt gar nicht!“

„So? Und wann war das letzte Mal, als du etwas so richtig gespürt hast?“

„Das war …Ich kann mich nicht erinnern.“

„Deine Seele ist irgendwo da drin verloren gegangen und ich kann dir helfen, sie zu finden. Gibst du mir den Auftrag?“

„Erstens: Wie willst du das anstellen? Zweitens: Was muss ich dafür tun?“

„Das ist ganz simpel. Ich gehe in deinen Körper und suche deine Seele. Dafür verlange ich nichts. Die Seelensuche ist meine Belohnung.“

„Du willst in mich hineingehen? Die Seele – wenn es sie geben sollten – ist doch nichts Physisches, was im Körper verlorengehen kann.“

„Ich habe schon viele Seelen wiedergefunden. Sie waren alle tief im Körper versteckt. Also stimmst du zu oder willst du weiter wie ein Stein leben?“

Der Regen hämmerte noch immer auf die Wendeplatte. Am Himmel war kein Zeichen von einem Wetterumschwung zu sehen. Was hatte ich zu verlieren?

„Dann mach schon! Na los!“

„Wie du willst.“

Ehe ich realisieren konnte, was geschah, war das Männlein bereits an der Seite meines Gesichts entlang auf meine Nase geklettert und in meinem linken Nasenloch verschwunden. Es fühlte sich an, als würde man eine Stechmücke einatmen. Aber er als er drin war, bemerkte ich zunächst für einige Augenblicke nichts mehr. Dann spürte ich mit etwas zeitlichem Abstand überall unter meiner Haut kleine Sensationen wie zarte Berührungen. Er musste wirklich meinen ganzen Körper absuchen, dachte ich.

Je länger das Männlein dort drin war, desto mehr schwand mein Gefühl für die Zeit. Ich saß nur da und starrte durch den Regen hindurch auf den alten Steinbruch, während in mir drin immer mal wieder eine zufällige Stelle ein Signal gab, das dort jemand unterwegs war. Nach einer Weile regte sich dann etwas. Zunächst spürte ich ein Ziehen in der Bauchregion, das sich kurz darauf in eine Art Sog verwandelte und schließlich ins Gegenteil verkehrte. Plötzlich strömte aus meinem Bauch eine unfassbar gewaltige Energie heraus, die sich in Sekundenschnelle durch meinen Körper verteilte. Ich war so voller Energie, dass ich aufstehen musste. Mein ganzer Körper glühte, als hätte er Fieber. Doch es war ein angenehmes Fieber. Ein heilendes Fieber.

Plötzlich musste ich kräftig niesen. Geistesgegenwärtig hob ich noch die Hand vor den Mund. Und siehe da. Neben ein paar Speicheltropfen lag dort das kleine schwarze Männlein in meiner Hand. Nachdem es sich aufgerichtet hatte, zeigte es wieder auf mein Ohr. Erneut ließ ich es in meinen Gehörgang hüpfen.

„Ich habe sie gefunden!“

„Und wo war sie?“

„Ganz tief in deinem Verstand versteckt.“

„Ich fühle mich so anders.“

„Das ist der Effekt. Machen wir den Wassertest!“

„Den Wassertest?“

„Streck deine Hand in den Regen!“

Ich befahl dem kleinen Seelensucher und streckte meine rechte Hand aus.

„Ich fühle den Regen. Und jetzt?“

„Du fühlst den Regen!“

„Ja, und?“

„Du hast als Erstes gesagt, dass du den Regen fühlst. Nicht, dass du nass wirst.“

Wie ich das hörte, dachte ich plötzlich an meine Kindheit zurück. Genau genommen an einen Tag, als ich beim Spielen mit Freunden draußen von einem raschen einsetzenden Sommerregen überrascht wurde. Und genau so fühlte es sich jetzt wieder an.

„Es ist wieder da! Ich spüre mich wieder.“

„Ich sehe es den Menschen an, wenn ihre Seele verschollen ist.“

„Wie kann ich dir nur jemals danken?“

„Pass von nun an besser auf deine Seele auf.“

Von Lukas Böhl

Hallo, mein Name ist Lukas Böhl. Ich bin der Autor hinter dem Sinnblock. Falls du mehr über mich erfahren willst, schau mal hier vorbei. Falls du Fragen oder Anregungen zur Seite hast, schreib mir einfach! :)