Ich jage einen Geist

Der Vollmond schien mir direkt in mein Gesicht. Mein Körper muss wohl gedacht haben, die Sonne geht auf, als er mich aus einem sanften Traum aufweckte. Trotz der Dunkelheit konnte ich jeden Gegenstand in meinem Schlafzimmer erkennen. Es war stickig, ich lief rüber zum Fenster und ließ die kalte Nachtluft einströmen. Ich musste genau in dem Zeitfenster aufgewacht sein, in dem die Nachtschwärmer bereits im Bett waren und die Frühschichtler noch nicht das Haus verlassen haben. Die Straßenlampen und der Vollmond erhellten einen leeren Gehweg. Mein Blick folgte der Straße runter bis zur großen Kreuzung. Kein Auto weit und breit zu sehen. Nur die Preisauskunft der Tankstelle leuchtete in rotem Neonlicht. Dann lenkte ich meinen müden Blick in die andere Richtung bergauf. Auch dort war niemand unterwegs."

Als ich schon dabei war, das Fenster wieder zu schließen, sah ich an der Bushaltestelle gegenüber eine schwarze Gestalt und erschrak mich so sehr, dass ich unweigerlich einen Schritt zurückwich. Es sah so aus, als würde die Person direkt zu mir hochsehen. Doch ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. „Ist das überhaupt ein Mensch?“, schoss es mir in den Kopf. Ich kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen, dass ich nicht einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen war. Doch nein, da stand jemand und sah genau zu mir hoch. Ein flaues Gefühl überkam mich und meine Beine wurden schwer. Für einen Traum war das alles viel zu real, dachte ich. Die Person hatte sich kein Stück bewegt, seitdem ich sie entdeckt hatte. Ich wollte sie anschreien, was ihr eigentlich einfiel, mich hier so anzustarren. Aber ich traute mich der Nachbarn wegen nicht. Dann eben unten auf der Straße!

Ich lief rüber zu meinem Klamottenstuhl, schnappte mir eine Hose und ein Sweatshirt, dann ging ich erneut zum Fenster. Die Person war immer noch dort. Ich schloss das Fenster, ging in den Flur, zog Schuhe an und öffnete die Wohnungstür. „Will ich das wirklich?“, fragte ich mich noch einmal. „Wäre es nicht besser, ins Bett zu gehen?“ Zu spät! Ich würde diese seltsame Person jetzt zur Rede stellen. Entschlossen eilte ich die Treppen hinunter, riss die Eingangstür mit etwas zu viel Elan auf, sodass sie gegen die Wand knallte und trat ins Freie. Mein Blick fiel sofort auf die Bushaltestelle gegenüber. Ich sah nur, wie ein Schatten sich erhob und losflitzte. Ich hastete hinterer. Wir rannten bergauf. Der Gehweg und die Straße waren noch nass vom Regen am Vorabend. Überall hatten sich große Pfützen gebildet. Während meine Schritte wie Hammerschläge durch die leeren Straßen hallten, gingen von dem Verfolgten keinerlei Geräusche aus. Ich zog das Tempo an, doch meine Kondition hatte in den letzten Monaten stark nachgelassen. Die Tatsache, dass wir bergauf rannten, war dabei nicht von Vorteil.

Zu meinem Glück bog die Gestalt irgendwann links ab. Dort verlief die Straße eben am Rand des Hügels entlang. Ich witterte meine Chance und stellte ihr hinterher. Sie lief direkt vor mir auf der Straße. Nur noch wenige Meter trennten uns voneinander. Vor lauter Fokus auf die Gestalt hatte ich gar nicht auf den Boden unter mir geachtet. Plötzlich merkte ich, dass ich mit dem rechten Fuß in Wasser trat. Ich dachte, es wäre eine Pfütze, doch mein Fuß fand keinen Grund. Bevor ich realisierte, was passiert war, war es bereits zu spät. Ich fiel in ein tiefes Wasserloch und sank nun immer weiter hinein. Um mich herum war alles pechschwarz. Über mir konnte ich noch verschwommen den Vollmond erkennen, der durch das Loch in der Straße schien. Je tiefer ich sank, desto mehr fühlte es sich an, als würde ich fallen. Und dann fiel ich tiefer und tiefer, ohne einen Abgrund zu sehen. Ein Oben gab es aber auch nicht. Kein links, kein rechts, nur ewiges Schwarz und ich mittendrin. Und dann wurde es mir klar: Ich jagte einen Geist. Plötzlich wachte ich im Bett auf, mein Oberkörper schnellte reflexartig nach oben und ich spuckte einen Strahl Wasser an die Wand.

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Von Lukas Böhl

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