Bin ich wach, um am Handy zu sein. Oder ich bin wach, weil ich am Handy bin? Ich weiß es nicht. Während ich durch nie aufhörende Posts und Bilder scrolle, stelle ich fest: „Meine Freunde haben eine harte Zeit.“ Alle posten Fake-Scheiß, um für einen Moment zu flüchten.
Ich lege das Smartphone weg und starre auf ein allumfassendes Schwarz. Der Bildschirm meines Handys wird dunkel, langsam zeichnet sich die Silhouette meines Zimmers im nächtlichen Licht ab. Ich will das alles nicht sehen. Also nehme ich das Handy wieder und poste: „Wir haben die Kindheit und dann beginnt die andere Hälfte unserer Lebens.“
Warte und aktualisiere. Warte und aktualisiere. Plötzlich erscheint ein Kommentar. „Ich wäre lieber erwachsen als ein Kind!“, hat jemand geantwortet. Auf den ersten Blick erkenne ich weder den Namen noch das Profilbild. Irgendeine verwilderte Katze mit nur einem Auge. Wohl nur ein Spinner …
Ich klicke auf das Profil und spioniere die einäugige Katze erst mal gründlich aus. Es ist ein Er. Aber tatsächlich scheint er ein Kind zu sein. „Was hat so ein Hosenscheißer auf dieser Plattform verloren?“, denke ich. „Und warum kommentiert er meinen Post?“. Sein Profil ist voller zufälliger Schnappschüsse, die das Chaos in einem Kinderkopf widerspiegeln. Irgendwelche Spielsachen, Katzen, viele Katzen, noch mehr Hunde, ein paar schlecht gekritzelte Genitalien … Aber kaum Fotos von ihm selbst.
Sehr weit unten finde ich dann aber doch eines. Ich klicke das Bild an und zoome rein. Mit einem Mal beschleunigt mein Herz auf 180. „Was zur Hölle?!“. Dieser Wichser hat ein Bild von mir gestohlen. Unverkennbar bin ich das als kleiner Junge, der da auf dem Foto zu sehen ist. Mit wahrscheinlich 8 oder 9 Jahren.
Schon will ich dem Kerl schreiben, aber dann fällt mir ein Detail ins Auge. Das Foto wurde vor einem Spiegel aufgenommen, mit einem iPhone. Als ich 8 Jahre alt war, hat Apple noch hässliche graue Heim-PCs hergestellt. Das iPhone war damals, wenn überhaupt, nur eine Idee in Steve Jobs Kopf.
Sofort denke ich an Künstliche Intelligenz. Da muss mich jemand gestalkt haben, um mir einen Streich zu spielen. Ich kehre auf das Profil zurück und scrolle weiter runter. Dort entdecke ich immer weitere Bilder von diesem Kind, das 1 zu 1 aussieht wie ich als Junge. Ist das nur ein Zufall? Hat nicht jeder Mensch einen Doppelgänger?
Doch die Ähnlichkeit ist zu auffällig, der Junge hat sogar die kleine Narbe im Gesicht, die von einer misslungenen Kletteraktion im Wald stammt. Ich fasse mir an die Wange. Da ist sie. Das kann unmöglich wahr sein! Je weiter ich scrolle, desto mehr glaube ich, wahnsinnig zu werden. Ich weiß von der Macht der KI, aber mir war nicht bewusst, dass die Programme mittlerweile so gut sind.
Schluss damit! Ich werde diesem Bengel jetzt schreiben. Etwas stimmt hier nicht. Ich öffne eine persönliche Nachricht und will zu tippen beginnen. Doch plötzlich ist da eine absolute Leere in meinem Kopf. Wo gerade Ungläubigkeit und Wut waren, ist jetzt nur noch Mitgefühl.
Ich erinnere mich an meine Kindheit. Auch wenn ich ständig in Nostalgie zurückblicke, kann ich mich noch ganz genau daran erinnern, wie beschissen es oft war, ein Kind zu sein. Nicht ernstgenommen zu werden, von allen nur herumkommandiert und äußeren Zwängen ausgesetzt.
Wem auch immer dieses Profil gehört, ich kann ihm nicht böse sein. Das einzig Sinnvolle, was mir einfällt, ist: „Das wird schon, Junge. Da gibt es Dinge, die du noch nicht verstehst und andere, die du nie verstehen wirst. Aber das ist in Ordnung. Du wirst okay sein. Versprochen!“ Ich schicke die Nachricht ab, lege das Handy auf den Nachttisch und laufe zur Balkontür. Ich habe das starke Bedürfnis, den Mond zu sehen.
Als Kind habe ich als Zeitvertreib oft einfach nur in den Himmel geschaut. Die Sonne und der Mond, die Wolken und die Sterne, die Flugzeuge und Vögel, der Regen und Schnee – das alles war genug. Und wie ich zum Mond hochblicke, sehe ich nicht den Mond dieser Nacht, ich sehe denselben Mond, den ich als Kind gesehen habe. Und er ist genug. Ich bleibe lange so stehen und beobachte das Geschehen am Nachthimmel.
Irgendwann schließe ich die Tür wieder und kehre ins Bett zurück. Ich nehme mein Handy vom Nachttisch und checke meine Nachrichten. Ich habe eine Antwort erhalten: „Du bist schon alles, was ich jemals sein wollte.“ Während ich die Worte lese, überkommt mich eine selige Müdigkeit und ich schlafe unvermittelt ein.
Am nächsten Morgen erwache ich aus einem traumlosen Schlaf. Ich bin verwirrt, aber dann trifft es mich wie der Blitz. Ich wühle nach meinem Handy unter der Decke, finde es und entsperre den Bildschirm. Die Nachricht ist noch da! Doch das Profilbild ist weg. Das kann nicht sein! Ich klicke auf das Profil und lese mit rasendem Herzschlag: „Person nicht gefunden.“