Die Wohnung 4a

Mit flauem Gefühl im Magen durchstreifte P die trotz des schönen Wetters an jenem Dienstagmorgen leeren Straßen von Kreuzberg oder Alt-Treptow. Ganz genau wusste er das nicht, weil er bereits so viele Häuserblocks mit geschlossenen Cafés und Bäckereien auf der Suche nach etwas zu frühstücken hinter sich gelassen hatte, dass er gut einige Kilometer zurückgelegt haben musste. Es war schon nach 8 Uhr, doch scheinbar mussten die meisten Berliner noch die Schatten der Dunkelheit ablegen, bevor sie sich ins grelle Licht der Sonne trauten. Weder sein Magen noch seine Füße hatten Lust weiterzugehen. Eigentlich hatte er sich ein Restaurant in einer Querstraße zum Hotel im Internet herausgesucht, das öffnete aber erst um 9 Uhr, wie er dann ernüchtert festgestellt hatte.

In der Hoffnung, etwas anderes zu finden, war er aufgebrochen, hatte dabei eine Brücke überquert, war durch einen kleinen Park spaziert und befand sich jetzt mitten in einer Wohngegend, die wenig vielsprechend aussah. Ein Späti war der einzige Laden weit und breit, der schon oder noch geöffnet hatte. P kaufte sich eine Packung Kaugummi gegen den Hunger und eine Flasche Bier gegen den Frust. Zu allem Übel gab es in der Straße nicht mal eine Sitzgelegenheit. Nachdem er zweimal links abgebogen war, fand er schließlich eine kleine Bank, die an die Wand eines Hauses gelehnt war und an deren Fuß ein überquellender Aschenbecher stand.

P setzte sich, öffnete die Kaugummis, schob sich zwei in den Mund, warf das abgerissene Papier auf den Zigarettenstummelhaufen und schlug den Deckel seines Biers an der Kante der Bank ab. Er landete irgendwo unter ihm, wo bereits so viel Müll lag, dass P es nicht für angemessen hielt, ihn aufzuheben. Heute hatte er den Vormittag frei, die Konferenz, für die er nach Berlin gekommen war, würde noch die ganze Woche andauern und hatte ihm jetzt schon all seine körperlichen und seelischen Kräfte geraubt, das Bier in seiner Hand ein Zugeständnis an seinen Stresslevel. Mit Menschenmasse kam er einfach nicht klar. Darum hatte er beschlossen, heute nicht im Hotel mit den Kollegen zu frühstücken und das ungefilterte Berliner Leben zu genießen. Ein Vorhaben, das er jetzt, nach dieser kleine Odyssee, fast bereute.

Mit seinem Anzug fiel er hier mehr auf als die hippen Mütter mit ihren volltätowierten Armen und den filzigen Haaren, die ihre Kinder zur Schule oder in den Kindergarten brachten. Er fühlte sich fehl am Platz, die Einsamkeit der Großstadt wurde plötzlich zur knallharten Realität. Während ein fröhlich singendes Mädchen im Kindersitz auf dem Gepäckträger seiner Mutter an ihm vorüberradelte und ihm zuwinkte, nahm er einen großen Schluck. Das Bier schmeckte so früh am Morgen noch bitterer als sonst, als würde die Tageszeit sich auf den Geschmack auswirken. Der Kaugummi tat das Übrige. P verzog das Gesicht und ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Es war alles ein bisschen schmuddelig, von den verschmierten Hauswänden bis zum mit undefinierten Flecken übersäten Bordstein.

Die Leute, die schon wach waren, saßen entweder im Auto oder auf ihren Fahrrädern, auf denen sie sich mechanisch irgendwohin bewegten. Hier war niemand eine große Nummer, die Leute ignorierten einen schlicht, egal, wer man war. Das kleine Mädchen war der einzige Mensch, der P wahrgenommen hatte, seit er aus dem Hotel spaziert war, abgesehen vielleicht von dem Verkäufer im Späti. Wo er herkam, grüßten ihn die Menschen, er war wichtig genug, um ihnen eine kurzes „Hallo“ oder „Grüß Gott“ zu entlocken. Doch nicht in Berlin. Gestern erst hatte er diesen ganz berühmten Schauspieler in der U-Bahn gesehen und die Leute haben ihn ebenso ignoriert, wie den krakeelenden Obdachlosen, der glaubte, er wäre der einzige, der die Durchsagen an den Haltestellen hören könne.

Vielleicht war Ignoranz etwas, das man sich verdienen musste, durch Ruhm oder Verrücktheit und er hatte noch nicht genug dafür getan, um daheim übersehen zu werden. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es heißer. Im Schatten war es noch auszuhalten, aber die Sonne war unbarmherzig, sobald sich nur ein Strahl auf die Haut verirrte. P öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Der Kaugummi in seinem Mund wurde schal, also spuckte er ihn in seine Hand und ließ ihn in den Aschenbecher plumpsen, wo er einen hübschen Kontrast zu den braunen Stummel bildete. Dann nahm er einen kräftigen Schluck von seinem Bier, dessen Effekt sich direkt auf den Kopf auswirkte. Schon fühlte sich der Hunger nicht mehr so drängend an wie vor einigen Minuten. Die Sonne schien ein wenig freundlicher und das Viertel war doch nicht so heruntergekommen, wie er es sich eingeredet hatte.

Wieder setzte er zum Trinken an, als er plötzlich etwas von oben an sich vorbeirauschen sah. Mit einem kaum hörbaren Klirren schlug es auf dem Boden direkt vor ihm auf. Sein erster Impuls ließ ihn nach oben sehen. Sein Blick wurde von der schmutzigen Unterseite eines Balkons im vierten Stock aufgefangen, von dessen Geländer einige Kletterpflanzen herunterhingen. Was auch immer da heruntergeflogen war, kam höchstwahrscheinlich von diesem Balkon. Mit dieser Einsicht beugte sich P nach vorn, um nachzusehen, worum es sich handelte. Er staunte nicht schlecht, als er den Gegenstand als einen Schlüssel identifizierte. Um genau zu sein waren es zwei Schlüssel, die von einem Metallring zusammengehalten wurden. Der eine, etwas kleiner als der andere, bedeckte diesen zur Hälfte.

Abermals schaute er nach oben, um sich zu versichern, dass der Besitzer des Schlüssels nicht Anspruch auf ihn erhob. Dort war niemand zu sehen. Vielleicht hatte der schwül-warme Wind, der seit heute Nacht durch die Straße fegte, ihn vom Tisch geweht, mutmaßte P und hob ihn auf. An seinem Zeigefinger hängend untersuchte er die Schlüssel auf Hinweise zu einem möglichen Besitzer. Sie waren ganz und gar charakterlos, zwei silberfarbene Schlüssel, die zu jeder Wohnung in diesem Haus, ferner in ganz Berlin, hätten gehören können. Obwohl er die Verantwortung gerne weitergegeben hätte, raffte sich P auf, machte einen Schritt von der Bank weg und schaute zum Balkon hoch. Aus diesem Winkel konnte er nichts erkennen, weswegen er die Straßenseite wechselte, um sich in eine günstigere Position zu bringen. Dort stand ein Bistrotisch mit zwei Holzstühlen, umgeben von einigen Pflanzen, deren Ranken er schon von der Bank aus gesehen hatte. Die Balkontür war geschlossen, nichts deutete darauf hin, dass jemand zuhause war. Auch die Fenster in den Stockwerken darunter waren geschlossen.

Für einen Moment wollte P einfach eine Notiz schreiben und den Schlüssel in irgendeinen Briefkasten werfen. Da er weder Stift noch Papier dabei hatte, verwarf er diesen Plan aber wieder. Also begann er die möglichen Partien zu zählen und hoffte, die Klingelschilder würden mit der Position der Wohnungen übereinstimmen. Wieder wechselte er die Straßenseite und fuhr mit dem Finger die Namensschilder ab. Es waren mehr als er gezählt hatte, was er auf einen möglichen Innenhof zurückführte. Als skeptischer Schwabe zweifelte er an der Rechtschaffenheit der Nachbarn und beschloss, den Schlüssel nicht irgendwo abzugeben. Langsam wurde ihm das Bier in der Hand lästig, er fühlte sich wie ein Rumtreiber mit der halbvollen Flasche. Kurzerhand leerte er den Rest in den kleinen Grünstreifen vor dem Haus und stellte das Bier neben die Bank.

Daraufhin trat er noch mal einige Schritte zurück, in der Hoffnung, doch noch jemanden auf dem Balkon zu erkennen. Das einzige, was sich dort bewegte, war ein kleines Windrad, das in einem der Blumenkübel steckte und sich träge im lauen Wind drehte. Etwas resigniert ließ er den Blick senken und fixierte die waldgrüne Eingangstür mit dem goldenen Knauf. „Natürlich!“, fiel es ihm ein, wenn der Schlüssel aus diesem Gebäude kam, passte er vielleicht ins Schloss. Wie ein Einbrecher sah er sich um, ob ihn niemand beobachtete. Dann schob er zunächst den großen Schlüssel vor und probierte aufzuschließen. Er passte nicht. Erneut sah er sich um, bevor er den kleinen Schlüssel probierte. Diesmal ging er ins Schloss und mit einem kurzen Dreh nach rechts ließ sich die Tür aufschieben.

Ein Geruch nach alten Steinen und leichtem Moder stieg ihm aus dem Vorraum in die Nase. Der Boden war mit einem Schachbrettmuster aus Fliesen versehen. Rechts an der Wand hingen die Briefkästen, auf der gegenüberliegenden Seite führte eine Treppe nach oben und ganz hinten ging eine Tür in den Innenhof über. Das alles fühlte sich nicht richtig an, P kam sich vor wie ein Eindringling. Bestimmt war schon irgendeine Kamera auf ihn gerichtet, an dessen anderen Ende ein Wachtmann den Finger über die Kurzwahltaste für die Polizei kreisen ließ. Gerne hätte er den Schlüssel einfach in einen der Briefkästen geworfen und wäre gegangen. Es waren acht an der Zahl, einer davon hatte nicht mal ein Namensschild, die Chance, den falschen zu erwischen, damit viel zu hoch. Die Sache musste persönlich erledigt werden. Nicht zuletzt, weil er sich ziemlich sicher war, dass der Schlüssel aus der Wohnung mit dem Balkon geflogen gekommen war.

Mit hastigen Schritten bewegte er sich auf die Treppe zu, sprintete sie hinauf, nahm die zweite ebenso schnell und wurde dann etwas langsamer. Der leere Magen, die Hitze und das halbe Bier zeigten Wirkung, ihm wurde für einen Moment schwindelig und er musste sich am Geländer festhalten, schwer schnaufend wie nach einem Marathon. Im Treppenhaus war es still, die Bewohner des Hauses hatten es entweder schon verlassen oder schliefen noch. Nachdem er sich gefangen hatte, setzte P seinen Gang gemächlich fort, bis er oben angelangt war. Wie auf den unteren Stockwerken, gab es auch hier nur zwei Türen, von denen die linke seiner Meinung nach die richtige war. Zielstrebig steuerte er darauf zu und sah sich schon in der ehrwürdigen Rolle des Schlüsselfinders als er die Klingel betätigte.

Im Inneren war deutlich die harmonische Tonfolge zu hören. P nahm eine gerade Haltung ein und räusperte sich, allerdings umsonst, denn es machte niemand auf. Da klingelte er noch mal und schickte dieses Mal ein entschlossenes Klopfen hinterher. Es blieb ruhig im Inneren, selbst nachdem er ein drittes Mal geklingelt hatte. Alsdann drehte er sich zur anderen Tür um, die ebenso still und verlassen anmutete. Kein Lebenszeichen, weder aus dieser noch aus jener Wohnung. Also beschloss er, den Schlüssel zu probieren, um zu sehen, ob er tatsächlich zu dieser Wohnung gehörte, sodass er ihn unter er Tür durchschieben konnte. In diesem Moment sah er sich schon im Wohnzimmer einer wildfremden Familie stehen, als er merkte, dass der Schlüssel gar nicht passte. Keiner von beiden, auch nach mehrmaligem Versuchen ließen sie sich nicht ins Schloss zwängen.

Wutentbrannt schlug er mit der flachen Hand gegen die Wand und bereute es sogleich, weil er glaubte, sich noch verdächtiger gemacht zu haben. Mit nervösem Blick scannte er die Decke nach Kameras ab, konnte aber nichts entdecken. Blieb noch der Nachbar, dessen Tür ihn mitsamt der anderen im Flur gefangen hielt, wenn sie über die Treppen kamen. Aus irgendeinem Grund ließ ihn das Gefühl nicht los beobachtet zu werden, obwohl er auch jetzt keine Kameras auf sich gerichtet sah. Etwas an dieser gegenüberliegenden Tür war anders.

Wenngleich es seine Augen waren, die glaubten, etwas wahrgenommen zu haben, bestätigte ihm sein Geruchssinn, dass sie recht hatten. Der museenhafte Geruch wurde von einem lieblichen, aber kräftigen Duft übertönt. P sog ihn tief in seine Lungen und war sich sicher, dass es Parfüm war. Ein betörendes, teures Frauenparfüm, dass unwillkürlich gute Erinnerungen in ihm wachrief. Zu viele, als dass er sie einer bestimmten Person hätte zuordnen können, jedoch klar genug, um ihn in eine melancholische Stimmung zu versetzen. Ein warm-wohliges Gefühl schwemmte den Hunger aus seinem Bauch, während sein Herz langsam schneller zu pumpen begann.

In seiner Schwelgerei entging ihm nicht, dass es hinter dieser mysteriösen Tür knarzte, jemand ging den Flur entlang und mit einem Schlag war die Tagträumerei beendet. Wer auch immer da hinter dieser Tür wohnte, hatte ihn vermutlich durch den Türspion beobachtet und war jetzt drauf und dran, die Polizei zu rufen. Trotz des instinktiven Fluchtreflexes blieb er stehen, schließlich hielt er immer noch diese verdammten Schlüssel in der Hand, die ihn erst in diese Situation gebracht hatten. Er hätte sie erst gar nicht aufheben sollen, sie ignorieren, wie ein richtiger Berliner und seines Weges gehen. Dann säße er jetzt beim Frühstück und stünde nicht hier in diesem namenlosen Altbau irgendwo in Kreuzberg oder Alt-Treptow oder weiß Gott wo.

Für einige Sekunden war er machtlos, seine Gliedmaßen schienen die Verbindung zu seinem Gehirn verloren zu haben. Dann besann er sich wieder, er war es doch gewohnt Verantwortung zu übernehmen. In seiner Firma jonglierte er jeden Tag mit unfassbar großen Zahlen und wurde mit Problemen konfrontiert, gegen die dieses Schlüssel-Dilemma ein Fliegenschiss war. Er richtete sich auf, schob die Brust vor und trat entschlossen vor die Wohnungstür, wo er die Hand zu einem kräftigen Klopfen hob, dann aber innehielt, als ihm auffiel, dass gar kein Namensschild an der Klingel angebracht war. Es war weiß wie die Wand. Ganz sicher hatte er gegenüber eines gesehen, ein Name, der auf -owski endete.

Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Auch sonst deutete nichts an dieser Tür auf einen Bewohner hin, es lag nicht mal eine Fußmatte davor. P war stutzig. Was, wenn sich die Person im Inneren unerlaubt dort aufhielt? Dann war er als rechtschaffener Bürger dazu verpflichtet, die Polizei zu rufen. Oder war er das überhaupt? Sollte man in Berlin nicht besser wegschauen, um nicht selbst zum Opfer zu werden? Seine Hand sank wieder auf Hüfthöhe, während er die graue Treppe nach jemandem absuchte, der ihm eine Antwort geben konnte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon bald halb 10 war, ein unmissverständliches Zeichen für seinen Magen, wieder Hunger anzumelden. „Nicht jetzt!“, schimpfte er vor sich hin und verfluchte die Bewohner des Hauses, dass sie nicht anwesend waren.

Auf einmal schreckte er zusammen, denn aus dem Inneren der Wohnung waren ganz deutlich Schritte zu hören, die auf ihn zukamen. Leise und sanft, doch energisch genug, um ihn einen Schritt zurücktreten zu lassen. Gespannt fixierte er den starren Knauf der Tür, als würde er sich gleich drehen müssen. Und dann ging es ganz schnell, die Tür öffnete sich erst nur einen Spalt, bevor sie ruckartig aufgezogen wurde. Was dahinter zum Vorschein kam, verschlug P förmlich die Sprache. Wie angewurzelt stand er da und starrte unverhohlen auf die Silhouette der Person, die sich im Hintergrund des düsteren Treppenhauses nur langsam abzeichnete.

Als er sie schließlich ganz erfassen konnte, ließ sich das leichte Zittern seines Körpers nicht mehr verbergen. Der süße Duft von vorhin nahm nun alles um ihn herum ein. Zwei haselnussbraune Augen hielten ihn an Ort und Stelle fest. Sie gehörten zu einem wundervollen, strahlenden Gesicht, das in einem schwarzen Blunt Cut eingefasst war. Der zarte Teint des Gesichts ging nahtlos in einen langen Hals über, von dem eine silberfarbene Kette mit einem kleinen Revolver-Anhänger baumelte, der auf die zwei vollen, von einem Push-Up-BH gehaltenen Brüste zeigte. Eingekleidet nur in einem weißen Top mit dem passenden Höschen und roten Hausschuhen mit Samtbezug.

P biss sich auf Lippe, nicht in der Lage, die Erregung noch weiter in Zaum zu halten. Sofort bereute er die anrüchige Geste und bemühte sich einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Die Fremde versah ihn derweil mit einem undurchschaubaren Blick, mit der einen Hand an die Tür gelehnt, mit der anderen unsichtbare Linien in die Luft zeichnend. Es dauerte einige Sekunden, in denen er sich wiederholt räusperte, bis er einen angemessen Ton fand, um ein freundliches, aber zurückhaltendes Gespräch zu beginnen. Das erste Wort lautete „ich“, doch danach durfte er nicht weitersprechen, denn die Fremde unterbrach ihn frech.

„Ich hab dich beobachtet!“, sagte sie mit einem trotz ihres perfekten Deutsches unverkennbar osteuropäischen Akzent. Auch wenn ihre Stimme die Lebenserfahrung und Abnutzung einer 50-jährigen Opernsängerin suggerierte, so verriet ihr Äußeres, dass sie gut 10 Jahre jünger war als P. Ihre außergewöhnliche Aura ließ ihn jedoch zu einem stotternden Teenager zusammenschrumpfen, der am liebsten davongelaufen wäre, um die offensichtliche Erektion nicht rechtfertigen zu müssen. Stattdessen stellte er ein Bein nach vorn und hob die Schlüssel hoch, um ihren Blick darauf zu lenken. Als sie das Schlüsselpaar erblickte, zog sie nur kurz die Augenbrauen hoch, schaute nachdenklich zur Seite und bemerkte gelangweilt: „Du hast die falsche Tür ausgesucht.“

Daraufhin warf sie ihm einen intensiven Blick zu, drehte sich auf der Stelle um und lief den Flur hinunter, wo sie in einem der Zimmer verschwand. P konnte alles beobachten, da die Tür immer noch sperrangelweit offen stand. Nun war er völlig verwirrt. Wie sollte er ihre Aussage deuten? Gehörten die Schlüssel ihr oder wusste sie, wem sie gehörten, wollte es ihm aber nicht sagen? Und wieso hatte sie die Tür aufgelassen? Eine undurchdringliche Flut von Gedanken und Ideen überfiel ihn, von denen sich schließlich eine durchsetzte: „Lauf ihr nach!“ Um sich zumindest nicht den Anschein zu geben, als wäre er notgeil, formulierte er sie in „Werde die Schlüssel los!“ um. Neuen Mutes ging er auf die Tür zu und betätigte die Klingel. Eine hübsche Tonfolge erklang im Inneren, die trotz ihrer Lautstärke unbeachtet blieb. P fiel beim Warten auf, dass der Flur gänzlich leer war, so unpersönlich wie das namenlose Klingelschild. Nichts deutete auf eine dauerhafte Bewohnung hin, was ihm einen unsittlichen Gedanken bescherte, für den er sich so schämte, dass er, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, einfach eintrat. 

Kraftvoll klopfte er gegen die offenstehende Tür und rief „Hallo?“ ins Innere. Vom Flur gingen zwei Zimmer ab, das dritte lag direkt am gegenüberliegenden Ende. Darin konnte er einen aufgeklappten Koffer mit verknüllten Klamotten erkennen, die überall um ihn herum verteilt lagen. Auch ein paar High Heels standen daneben. P konnte sich keinen Reim auf das alles machen. Dem Anstand gebührend bewegte er sich mit absoluter Zurückhaltung durch den kleinen Flur und schielte ins erste Zimmer. Es war ein Badezimmer, mit einem kleinen Fenster, das zur Straße rausblickte. Wie im Flur zog sich auch hier der unpersönliche Charakter der Wohnung fort, allein ein paar Hygieneartikel und ein Beutel mit Schminksachen verrieten, dass hier zumindest zeitweise jemand wohnte. 

Wie ein Polizist, der bei einer Wohnungsdurchsuchung alle gesicherten Zimmer hinter sich schließt, zog auch er die Tür leise zu. Unter ihm knarzten die langen Holzdielen des Flurs, ebenso wie vorhin als er dasselbe Geräusch gedämpft hinter der verschlossenen Tür gehört hatte. Es war das einzige Geräusch, das zu hören war, ansonsten war es ganz still als er sich zum nächsten Raum vorwagte. In dem schmalen Raum befand sich die Küche und zu seiner Überraschung auch die Frau. Mit übereinandergeschlagenen Beinen und einer glimmenden Zigarette in der Hand saß sie, jetzt in einen schwarzen Morgenmantel gehüllt, am halb offenen Fenster und pustete den Rauch hinaus. Vor ihr stand ein spärlich gedeckter Frühstückstisch mit einigen aufgebackenen Brötchen, etwas Wurst und Käse, einem Glas Marmelade und einer Kaffeekanne, dessen heißen Inhalt sie schon in eine Tasse umgefüllt hatte. Es war gerade noch Platz für einen weiteren Stuhl ihr gegenüber. Als sie P bemerkte schielte sie nur kurz rüber und widmete sich dann wieder ihrer Zigarette. P haderte noch, ob er sie siezen oder duzen sollte, entschied sich dann aber für das „Du“, weil sie offensichtlich viel jünger war als er. 

„Sind das deine Schlüssel?“, brachte er unsicher hervor und hob sie hoch. Der Kaffeerauch aus der Tasse stieg geheimnisvoll nach oben, um sich mit dem grauen Zigarettenrauch zu vereinen und in dem unsichtbaren Luftsog ins Freie zu entfliehen. Die Frau drehte den Kopf, zog eine Schnute und scannte ihn von Kopf bis Fuß ab. Ein Achselzucken war alles, was sie darauf erwiderte. P missfiel ihr unnahbares Gehabe und zu allem Übel regte der Kaffeegeruch wieder seinen Hunger an. Offensichtlich war ihr sein Blick auf das Essen aufgefallen, denn sie fragte ihn, ob er etwas möchte. Es sei genug da, meinte sie. Sie hätte ohnehin keinen Hunger. P ging in diesem Moment vieles durch den Kopf, doch die Einladung auszuschlagen kam ihm nicht in den Sinn. Obwohl er wusste, dass er aus Höflichkeit hätte ablehnen sollen, ging er ohne ein Widerwort auf den Tisch zu, schob den billigen Holzstuhl mit dem Aluminiumrahmen zurück und setzte sich zu ihr. Jetzt fühlte er sich in seinem Anzug noch viel unwohler als vorhin. Sein Gegenüber beäugte ihn kritisch, wobei sie komische Verrenkungen mit dem Mund machte. Schließlich fiel ihr Blick auf den Tisch, was sie zu der Erkenntnis brachte, dass kein Geschirr dastand.

„Warte!“, rief sie mit überraschend viel Emotionen in der Stimme, sprang auf, lief zu dem kleinen Unterschrank neben der Spülmaschine, aus dem sie einen Teller und eine Tasse hervorholte, öffnete anschließend die Geschirrschublade, um ein Messer rauszufischen und kehrte mit vollen Händen zum Tisch zurück. Sie stellte alles nacheinander ab und ließ P dabei nicht aus den Augen. Als sie fertig war, sagte sie lasziv: „Bitteschön!“ Der war sich immer noch nicht sicher, was er von alledem halten sollte und wie er zu ihrer Geheimnistuerei stand. Irgendwo in ihm kämpfte noch immer die Neugierde gegen die Vernunft an und konnte erneut die Oberhand gewinnen. Er schenkte sich Kaffee in die weiße Tasse ein und legte ein Brötchen auf den Teller, alles unter der Beobachtung seiner fremden Gastgeberin. Wenngleich er ihre Gedanken nicht lesen konnte, so folgte er wenigstens seinen eigenen. Für ein Model war sie zu füllig, schlussfolgerte er und sah sich im nächsten Moment wieder mit einem anrüchigen Gedanken konfrontiert, den er mit aller Gewalt beiseiteschob. Um sich abzulenken, versuchte er, ein Gespräch zu beginnen: „Was für ein Zufall, ich wollte eben frühstücken gehen.“

Das Mädchen lächelte kühl, wobei ihm zum ersten Mal auffiel, wie stark sie geschminkt war. Sie wusste ihre Vorzüge hervorzuheben und ihre Makel zu kaschieren. Nach einem Moment der Stille antwortete sie: „Das wird deinen Hunger nicht stillen.“

Verdutzt blickte P sie an und verschluckte sich beinahe an seinem Käsebrötchen, in das er eben herzhaft hineingebissen hatte. Wie sie das meine, wollte er mit vollem Mund wissen.

„Du hast Lebenshunger, sowas merke ich“, sagte sie fest entschlossen, als wäre ihre Meinung die einzige, die Gültigkeit besitzt. P fühlte sich durch ihre forsche Art angegriffen, er sah ihre Aussage als Anspielung auf sein Alter und die versäumte Jugend, die seinem Job zum Opfer gefallen war. 

„Was weißt du schon? Du bist doch gerade mal Mitte zwanzig und lässt hier irgendwelche Fremden in deine Wohnung“, setzte er ihr entgegen.

„Ich bin älter und das ist nicht meine Wohnung. Außerdem bist du einfach reingekommen. Männer sind so leicht zu manipulieren.“

„Du hast mir doch deinen Schlüssel vor die Füße geworfen und bist dann ohne ein Wort zu sagen in dieser Wohnung verschwunden. Und bilde dir nicht ein, mich zu kennen! Ich bilde mir auch keine Meinung von dir anhand dieser ganzen…Umstände hier.“

„Ich weiß, was du denkst und du hast recht.“

P schluckte, denn er wusste ganz genau, dass sie nicht auf die Sache mit dem Schlüssel anspielte. Auf so viel Ehrlichkeit wusste er keine Antwort, wortlos kaute er auf seinem Brötchen herum und nahm sofort einen weiteren Bissen, wenn sich der Inhalt seines Mundes langsam auflöste, dabei wich er ungeschickt ihrem Blick aus, indem er auf die Kaffeetasse oder aus dem Fenster starrte. Unaufhörlich haftete der an seinem Gesicht, jede Muskelregung wahrnehmend, um sie mit einem kaum merklichen Zucken ihrer Augen stumm zu kommentieren. P fühlte sich ihr völlig ausgeliefert. Nicht im Stande zu flüchten, harrte er aus, in der Hoffnung, dass sich alles von alleine fügen würde. Wieder begann die Frau zu sprechen: „Wenn man seinen Schlüssel aus dem Fenster wirft, passieren viele Dinge. Manchmal wird er gestohlen oder die Leute ignorieren ihn einfach. Aber es gibt auch Menschen, die ihn zurückbringen, so wie du.“

P zerkaute schnell ein großes Stück Brot, dass er sich eben aus Unsicherheit in den Mund geschoben hatte, um dann zu erwidern: „Also ist es dein Schlüssel? Du machst das öfters?“

Die Frau zog bedeutungsvoll an ihrer Zigarette, inhalierte tief und blies ihm den Rauch direkt ins Gesicht, bevor sie fortfuhr: „In Paris, in Barcelona, in Stuttgart, wo mich der Job hinbringt. Einmal kam ein Mann und wollte Sex mit mir, aber ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben. Dann ist er wütend geworden und wollte mich schlagen. Zum Glück kam in diesem Moment der Nachbar vorbei und half mir. Die beiden liefen auf den Gang und prügelten sich. Ich hab die Tür zugemacht und die Polizei gerufen.“
„Und dann?“, wollte P ungläubig wissen.
„Weiß nicht, ich bin ins Bett gegangen.“

P glaubte, sich mit einem Kind zu unterhalten. Ihre nachlässige Art, in der sie Fragen beantwortete, die offensichtliche Naivität, die sie ausstrahlte und dieses unverhohlene Anstarren ständig kannte er so nur von seinem vierjährigen Neffen. Zu all dem gesellte sich eine unbestimmte Furcht vor ihr, die er nicht genau orten konnte. All das wirkte aufgesetzt, jeden Moment hätte aus dem anderen Zimmer ein bewaffneter Komplize stürmen und ihm einen Baseballschläger über den Kopf ziehen können. Diese ungesunde Mischung aus Neugierde, Erregung und Angst erlaubten es ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Umso mehr überraschte ihn ihre nächste Frage.

„Hast du Kinder?“, wollte sie wissen, als wäre ihr absurdes Aufeinandertreffen ein Date. Daraufhin musste P erst einen großen Schluck Kaffee nehmen, dessen herber Geschmack sein Herz bereits schneller schlagen ließ. Bevor er antwortete, nahm er sich noch ein Brötchen aus dem Korb.

„Nein, ich habe die Arbeit“, sagte er schließlich, während er das Brötchen aufschnitt.

„Dann bist du wie ich“, stellte seine merkwürdige Gesprächspartnerin fest und schnippte den Rest ihrer Zigarette aus dem Fenster. Ihr Gesicht nahm plötzlich einen melancholischen Ausdruck an, bevor sie ihm offenbarte, dass sie gerne ein Baby hätte. Und dann in ein, zwei Jahren ein zweites. Ein Mädchen und ein Junge oder vielleicht zwei Mädchen, aber nicht zwei Jungs, das ginge auf keinen Fall gut mit ihr. Der Gedanke daran ließ sie lächeln, was sie ungleich nahbarer machte. P musst ebenfalls lächeln, nicht so sehr wegen ihres Kinderwunsches, sondern wegen der Leichtigkeit, mit der sie darüber sprach. Als wären Kinder kein lebensverändernder Umstand, der eine radikale 180-Grad-Wende bedeutete. Ihr Äußeres war ihrem Geist weit voraus, dachte er und verspürte plötzlich ein Gefühl, wie er es für die Kinder seines Bruders empfand. Sie war noch ein Kind. Trotz dieses Haarschnitts, trotz der Zigaretten, die sie so lässig rauchte und trotz des Jobs. Die Vorstellung, dass dieses zarte Geschöpf allein durch die Metropolen der Welt reiste, regte seinen Beschützerinstinkt an und er fragte gerade heraus: „Bist du ganz allein?“

„Ja, ich habe niemanden. Nur mich. Manchmal bin ich so einsam, dass ich glaube, es gibt mich zweimal, weil ich mich immer nur mit mir unterhalte. Abgesehen von meinen…“
P unterbrach sie, weil er diese Wahrheit nicht akzeptieren wollte: „Ich verstehe.“

Der schroffe Einwurf sorgte für eine peinliche Unterbrechung im Gespräch. P biss verlegen in sein Brötchen, seine neue Bekanntschaft zündete sich noch eine Zigarette an. In seinem Job musste er sich oft mit schwierigen Kunden auseinandersetzen, aber dort herrschte durch die förmliche Umgebung immer eine gewisse Distanz, die seinerseits eine legere Gleichgültigkeit zuließ. In dieser Situation jedoch war er emotional so befangen, dass er jedes Wort und jede Frage auf die Goldwaage legte, die ihm in diesem Augenblick durch den Kopf geisterten. Diese Frau stammte im wahrsten Sinn des Wortes aus einer anderen Welt, eine, mit der er nie zuvor in Kontakt getreten war. Daheim in der Provinz gab es sowas einfach nicht und wenn, dann wurde es mit verschwörerischer Gewissenhaftigkeit totgeschwiegen. P spürte, wie ihm die Schweißtropfen auf die hohe Stirn traten, jetzt nicht mehr nur wegen der Hitze. Die kleine Küche wurde immer beklemmender, die Stille immer drückender. Als er es nicht mehr aushielt, fragte er endlich, was er schon die ganze Zeit hatte fragen wollen: „Wie heißt du?“

Die Frau musterte ihn aufmerksam, nachdem sie die Frage gehört hatte und antwortete nicht sofort. Ihr Blick prüfte P, um abzuschätzen, welchen ihrer vielen Namen sie ihm nennen sollte. Nach zwei tiefen Zügen sagte sie schließlich: „Mona.“

Enttäuschung machte sich in P breit, weil er wusste, dass das nicht der Name war, den ihr ihre Mutter gegeben hatte. Es war der Name, der ihrer Fantasie entsprungen war, hinter dem sie ihre Persönlichkeit verbarg, der mitsamt der Schminke und ihrer unnahbaren Art als Schutzschild gegen unerwünschte Fragen fungierte. P sah ein, dass er nicht weiter darauf rumreiten sollte und nahm es wortlos hin, so dass er ganz vergaß, ihr seinen Namen zu nennen. Sie wollte ihn ohnehin nicht wissen, starrte ihn nur weiter an. Fast vorwurfsvoll blickte sie jetzt in seine leicht feuchten Augen. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, als würde er den Schweiß wegwischen, um sie zu trocknen. Mona spielte abwesend mit einem Zipfel ihres schwarzen Morgenmantels. Darunter zeichnete sich ihr draller Körper ab, den anzublicken P sich verbot wie die schlechten Gedanken über Gott, die er als Messdiener während des Gottesdienstes als Kind manchmal gehabt hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich immer für einen Mann von Welt gehalten. Im Büro sagte er oft Dinge wie „China hat angerufen“ oder „Ich kann nicht, ich bin mit den Amerikanern zum Mittagessen verabredet“. Doch hier und jetzt, in dieser winzigen Küche im Angesicht dieses Frau, fühlte er sich wie der Kater seiner Nachbarin, dessen kleines Revier sich zwischen zwei Ortsschildern erstreckte, die die gleiche Aufschrift trugen. Auf seinen unzähligen Geschäftsreisen hatte er stets nur die Reflexion seiner eigenen, heilen Welt gesehen, wenn er in fremden Ländern unterwegs gewesen war. Doch nie war er hinter den Spiegel getreten, um sich die Schattenseite, die Abwelt anzusehen. Als frommer Christ erzogen, in geschäftiger Tugend zum Mann geworden, hatte er sich nie einen Ausrutscher erlaubt, die Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen.

Natürlich hatte er Kollegen abtauchen sehen, für ein paar Stunden, einen Abend oder sogar ganze Tage, aber die Tatsache, dass sie unverändert wieder zurückgekehrt waren, hatte ihn nie neugierig werden lassen. Über solche Themen unterhielt man sich nicht, so hatte er es von Zuhause mitgenommen und in die Welt hinausgetragen. Die Erkenntnis, dass vor der eigenen Haustür mehr Einsichten in die Eigenarten der Menschheit warteten als dort draußen, erschien ihm völlig neu und wichtig, so dass er das starke Bedürfnis verspürte, sich Mona, die ihn schließlich erst auf diese Gedanken gebracht hatte, mitzuteilen. Die hatte ihn ohnehin die ganze Zeit über beobachtet, er konnte es ihr direkt ins Gesicht sagen.

Ihre tiefen, braunen Augen hielten ihn jedoch auf. Was wollte er ihr sagen? Wie sollte er es sagen? Sprachen sie überhaupt dieselbe Sprache? In China hatte er einen Dolmetscher, aber hier? Hier war er auf seine spärlichen Kenntnisse dieser anderen Welt angewiesen, die sich auf eine einstündige Reportage, die er mal im Fernsehen gesehen hatte und das Halbwissen aus diversen Diskussionen mit Kollegen, Verwandten und Freunden beschränkten. Sein Unwissen stimmte ihn traurig, seine Mimik übersetzte seine Emotionen in eine für Mona verständliche Sprache. 

„Was hast du?“, fragte sie entgegen ihrer vorherigen Kühle mit sehr viel Empathie in der Stimme. P seufzte: „Ach, es ist nur, dass mir gerade klar wurde, dass ich gar nicht so…weltoffen bin, wie ich immer dachte.“

„Hast du noch nie mit einer…?“

„Nein“, erwiderte er schnell, um sie den Satz nicht zu Ende führen zu lassen. 

„Dann bist du ein guter Mann“, stellte sie fest, ohne das Lob in ihren Gesichtszügen widerzuspiegeln. P wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, schwieg und nahm noch einen Schluck Kaffee. Derweil zog ein lauwarmer Windhauch vom Fenster herein, der auf ein aufziehendes Gewitter hindeutete. Mona sah nach draußen, als hätte sie es auch gespürt. Einen Augenblick lang war es still. Dann, ganz unvermittelt fixierte sie ihn wieder, um die nächste Frage zu stellen: „Hast du eine Frau oder Freundin?“

Da er gerade damit beschäftigt gewesen war, sich auszumalen, wie er bei einem plötzlich einsetzenden Unwetter am besten zurück zum Hotel kommen würde, hatte er ihre Frage nicht verstanden und war erst bei dem Wort „Freundin“ aufmerksam geworden.
„Was?“, fragte er ungläubig.

„Hast du eine Freundin, wollte ich wissen“, wiederholte Mona leicht gereizt ihre Frage.

„Das habe ich nicht und hatte ich auch schon lange nicht mehr, weil…“
„Weil du die Arbeit hast“, ergänzte sie spöttisch seine Antwort.

„Richtig! Du passt ja doch auf“, erwiderte er mit derselben Missbilligung.

Sie konterte mit einem Zucken ihrer zusammengekniffenen Augen, nur um einen Moment später, als hätte man sie durch eine freundliche Doppelgängerin ersetzt, in einem sehr weichen Ton über ihren Ex-Mann zu erzählen: „Ich habe jung geheiratet, weißt du? Mein Mann war schon älter, ein faules Arschloch, wollte nicht arbeiten. Durch meinen Job hatten wir Geld, mit dem wir ein Haus gekauft haben. Ein schönes Haus, zwei Stockwerke, genug Zimmer für Kinder. Und weißt du, was dann passiert ist? Jemand hat mich angerufen und gesagt, dein Mann betrügt dich. Ich habe gedacht, das würde er nie machen und die Frau beschimpft. Aber irgendwann habe ich es selbst herausgefunden. Es war eine jüngere Frau, was auch sonst. Wir haben uns getrennt und das Haus gehört jetzt ihm, obwohl ich in Deutschland ficken war. Stell dir das vor! Dieses faule Schwein wohnt jetzt mit seiner neuen Hure darin! Aber so ist das. Ich hätte es abgerissen das Haus, am besten mit ihm darin. In so einem Haus wollte ich nicht leben, aber das ist doch ungerecht, oder nicht?“

Ihre Tirade beendete sie mit ein paar harsch klingenden Worten in einer Sprache, die P nur grob irgendwo in Osteuropa verorten konnte, deren Sinn sich ihm aber dennoch offenbarte. Wütend blies sie den Rauch durch ihre Lippen, erhob sich kurz, spuckte aus dem Fenster und ließ sich wieder in den Stuhl fallen. Ihr Kopf sank auf ihre Brust, wo er für eine Weile liegen blieb. P hatte sich indes nicht mehr getraut, das letzte Brötchen zu nehmen und sah sich verlegen im Raum um. Er suchte nicht so sehr nach einem Fluchtweg, sondern mehr nach den richtigen Worten, um Mona beizustehen. Die Geschichte, die sie ihm eben so knapp dargelegt hatte, war ihm bis tief unter die Haut gegangen. Ihre Wortkargheit hatte nur hervorgehoben, wie sehr sie immer noch daran zu nagen hatte.

Während er zur Tür hinschaute, konnte er im Augenwinkel erkennen, wie sich ihr Kopf zum Fenster neigte. Sie schaute hoch zum Himmel, wo offensichtlich etwas vor sich ging. Da krachte plötzlich ein heftiger Blitz nieder, der das Zimmer für eine Sekunde in ein grelles Gelb hüllte, bevor ein schweres Donnergrollen die beiden zusammenschrecken ließ. Ihre Augen trafen sich in ihrem Schock, den beide vor dem anderen zu verbergen versuchten. Mona, indem sie schnell einen Zug von ihrer halbgerauchten Zigarette nahm, P, indem er einen kleinen Hustenanfall vortäuschte. Und dann ging es los, der einsetzende Regen raschelte zunächst in den Blättern der großen Eiche vor dem Fenster, dann klackte er auf dem kleinen Fenstersims und schließlich fiel ein Tropfen direkt auf das letzte Brötchen, das in dem Körbchen übriggeblieben war. Die beiden sahen regungslos zu, wie die trockene Kruste den Tropfen in sich aufsog. Noch ein Tropfen verirrte sich auf den Tisch, er landete auf der weißen Platte. Schnell wurden es mehr, bis Mona einsah, dass sie das Fenster zumachen musste.

Hinter das Glas verbannt, hörte sich der Regen mit einem mal viel dumpfer an. Doch das nächste Donnergrollen, das nicht lange auf sich warten ließ, war genau so laut wie das erste. Dieses Mal zuckte nur Mona zusammen. P musste schmunzeln und senkte schnell den Kopf, um sich nichts anmerken zu lassen. Draußen tobte das Unwetter jetzt in vollem Umfang. Ein heftiger Wind peitschte auf die Eiche ein, deren Äste sich ihm beugten und einige Blätter lassen mussten, von denen eines kurz an die Scheibe gepresst wurde, bevor die schweren Regentropfen es mit sich rissen. Inmitten dieser grotesken Realität, war P, als würde er von außen durch das Fenster in einen profanen Tagtraum blicken, den er so schon hunderte Male geträumt hatte. Sie war attraktiv, die Wohnung groß genug für ihre frische Liebe, der Regen und Donner laut genug, um die Zweifel zu verscheuchen.

In diesem Augenblick sprang Mona auf, sodass man durchaus hätte glauben können, sie liefe vor seinem Tagtraum davon. P, der so eingenommen davon war, brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass der wichtigste Teil eben verschwunden war und es keinen Sinn machte, wenn er über sich selbst fantasierte, wie er den Rest seines Lebens dem Regen zusah. Zu lange, um mitzubekommen, wohin sie gelaufen war. Wie ein Hund, der alleine in der Wohnung zurückbleibt, während sein Herrchen ausgeht, schaute er sich in der leeren Küche um. Ihr Duft hing noch darin. Mit einer unbestimmten Furcht erhob er sich bedächtig von seinem Stuhl, schob ihn pflichtbewusst an die Tischkante und ging zur Türschwelle vor.

Dort blickte er einmal links den Flur entlang, wo er die offene Eingangstür und den leeren Flur dahinter sah, und einmal nach rechts, in den Raum mit dem lieblos geöffneten Koffer. „Wenn sie nicht dort ist, ist sie weg“, dachte er und ging darauf zu. Er war mit demselben Holzboden ausgelegt. Was man vom Flur nicht hatte sehen können, war das Doppelbett an dessen metallenen Fußende der Koffer ansetzte. Es war ein schlichtes Bett mit Metallgestell und weißen Laken. Gegenüber am Fenster stand eine weiße Kommode mit sechs Schubladen und ein mannshoher Standspiegel. Ansonsten war der Raum, der etwa doppelt so groß war wie die Küche, leer. P bemerkte nicht gleich, dass er nicht allein war. Erst als sich die Decke bewegte und er kurz auffuhr, erkannte er die menschliche Silhouette darunter. 

„Was machst du da?“, fragte er erstaunt.

„Ich hasse Gewitter, ich habe Angst davor!“, antwortete ihm die gedämpfte Stimme Monas.

Wieder fühlte er sich an die Kinder seines Bruders erinnert, besonders an den Kleinen, der sich ebenfalls vor dem Donner fürchtete. Unwillkürlich lächelte er und spann den Tagtraum von vorhin etwas weiter. Draußen polterte und rumpelte es, während immer wieder grelle Blitze kurz die Wohnung erhellten. Ein besonders starker Wolkenbruch sorgte für aufgeregte Unruhe unter der Decke. Schließlich flog die obere Hälfte weg und Monas mit schweißnassen Haaren verklebtes Gesicht kam zum Vorschein. Ängstlich sah sie zu P rüber, der ihr seelenruhig zulächelte. „Leg dich zu mir!“, befahl sie ihm.

„Was?“, fragte er ungläubig.

„Ich will deine Hand halten. Komm!“

Die Abwegigkeit dieses ganzen Morgens hatte ihn so weichgespült, dass er ohne Widerwort die Schuhe auszog und sich kerzengerade ins Bett legte, das unter seinem Gewicht ächzte. Aus dieser Position fiel ihm erst die schöne Deckenverzierung auf, die sich um eine am Kabel hängende Glühbirne in der Mitte der Decke erstreckte. Eine Weile passierte nichts, sie lagen nur da und hörten dem Gewitter zu, das sich in immer neue Höhen steigerte. Erst als sich das Licht eines besonders heftigen Blitzes bis unter die Decke verirrte, schoss eine kleines Hand darunter hervor, stach zunächst in P’s Oberschenkel, tastete dann wahllos an seinem Körper entlang, bis sie fand, wonach sie suchte und zupackte.

Ihre Hand umschloss seine so fest, dass er sie kurz anhob, um sicherzugehen, dass kein Mann unter der Decke lag. Ihre Fingernägel waren lang und spitz und sexy mit dem roten Nagellack. Sie zu halten erfüllte P mit einem warmen, aber gleichzeitig unsicheren Gefühl, wie er es lange nicht mehr gespürt hatte. Jeglichen Willens beraubt lag er da und starrte hoch zu der kleinen Glühbirne, die kaum merklich hin- und herschwang. Im Zimmer wurde es bald unangenehm warm, die Wärme, die unter der Decke hervorkroch, trieb ihm die Schweißperlen in Bächen am ganzen Körper hinunter auf das weiße Laken. Nichtsdestotrotz hätte er seinen Platz für nichts in der Welt verlassen…bis auf einen Anruf!

Irgendwo zwischen dem Getöse des Windes, dem Krachen des Donners und Monas leisem Atem unter der Decke klingelte ein Handy. P’s Hand schnellte zu seiner Hosentasche, im Glauben seine Kollegen pfiffen in zurück. Er war erleichtert, als er es mit schwarzem Bildschirm herauszog. Nur eine Illusion, redete er sich ein und wollte schon wieder in seine vorherige Schwelgerei eintauchen, als er bemerkte, dass Monas Hand nicht mehr in der seinen ruhte. Stattdessen konnte er jetzt ihre Stimme hören. Sie klang gedämpft unter der Decke, doch er konnte ihre Aufregung heraushören. Offenbar stritt sie sich mit jemandem. Ohne großartig darüber nachzudenken hob er die Decke an, um nachzusehen, was vor sich ging. Er fing sich einen giftigen Blick der Telefonierenden ein und wurde augenblicklich durch ein rasches Herunterreißen des Deckenzipfels wieder abgeschirmt.

Das Gespräch dauerte noch etwa 30 Sekunden, dann war es still, wenn man den Donner, den Regen und den Wind außer Acht ließ. Anrufe hatten in seinem Leben schon so viele schöne Erlebnisse beendet, dass er die Erfindung des Telefons verfluchte. Da spürte er einen Windhauch neben sich, die Decke flog vom Bett und Mona hinterher. Sie eilte aus dem Zimmer, stürmte den Gang hinunter und knallte eine Tür zu. Wieder war es still, P sah den Schwaden von Regen zu, die gegen das Fenster preschten, als wollten sie sich Einlass verschaffen, um ihn zu ertränken. Monas Duft bildete eine unsichtbare Spur im Raum, die sich zu materialisieren schien. Er erhob sich aus seiner liegenden Position, setzte sich an die Bettkante, zog seine Schuhe heran, schlüpfte hinein, stand auf, richtete Hemd und Sakko und folgte ihr.

Die Küchentür war offen, alles stand noch so da, wie sie es vorhin zurückgelassen hatten, im Hintergrund die gläsernen Wasserfälle am Fenster. Vielleicht lag es am Wetterumschwung, aber die Szene am Frühstückstisch kam ihm jetzt vor wie eine weit zurückliegende Erinnerung oder etwas, an das man sich zu erinnern glaubte, aber in Wahrheit in einem Film gesehen hatte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es keine halbe Stunde her war, ging er vor zum Badezimmer, dessen Tür verschlossen war.

Bemüht, keinen Lärm zu machen, trat er ganz nahe heran, um das Ohr anlegen zu können. Dann hielt er den Atem an und lauschte. Es war schwer zwischen all den anderen Geräuschen auszumachen, was woher kam, aber er glaubte ein leises Schluchzen im Inneren zu hören und klopfte sachte an. Das Klopfen verhallte zunächst unbeachtet, doch dann hörte er Schritte. Eins, zwei, drei zählte er und als er bei vier ankam, spürte er ihre Aura auf der anderen Seite, so wie vorhin hinter der Eingangstür, so geheimnisvoll und undurchdringlich. Wortfetzen, abgehalfterte Sprüche und Anekdoten schwirrten ihm durch den Kopf, nichts davon angemessen, um auszudrücken, was er empfand, was sie empfand, was vor sich ging. Und gerade als er sich eine halbwegs vernünftige Ansprache zurechtgelegt hatte, kam ihm Mona zuvor: „Du musst jetzt gehen.“

Sie sagte es weder herzlos noch mit erkennbaren Emotionen in der Stimme, ganz kalt und sachlich kam es rüber. Dann spürte P ihre Aura zurückweichen, sie war von der Tür weggetreten. Ratlos stand er davor und musterte die wolkenförmige Maserung des Holzes, während ein Teil ihm sagte, er solle bleiben und sie trösten und der andere ihn schnellstmöglich aus der Wohnung bugsieren wollte. Letztlich war es seine konservative Erziehung und sein Anstand, auf ewig in den Worten seiner Mutter manifestiert, die ihn lenkten: „Misch dich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein.“ Hätte sie das auch gesagt, wenn sie Mona gekannt hätte? Und was würde sie sagen, wenn er ihr Mona vorstellen würde? Das würde er wohl nie erfahren.

Bevor er ging sagte er noch gerade laut genug, dass sie es hätte vielleicht hören können: „Pass auf dich auf!“ Dann trat er auf den Flur hinaus, zog die Eingangstür zu und blieb mit dem Blick an der Wohnungsnummer haften: 4a. Aus irgendeinem Grund blickte er auch zur Wohnung gegenüber, wie um sich zu versichern, dass auf a wirklich b folgte. Tatsächlich. Die Welt war nicht aus den Fugen geraten. Bei so viel Logik fiel ihm wieder der Schlüssel ein, der immer noch in seiner Hosentasche lag und gegen seinen Oberschenkel drückte. Er zog das winzige Stück Metall heraus und versah es mit einem wehmütigen Blick, bevor er sich runterbeugte und das Paar durch den kleinen Spalt unter der Tür zurück in die Wohnung schob. Die Schlüssel nicht nur zur Wohnung 4a in diesem fremden Gebäudekomplex, sondern auch in diese merkwürdige Welt, in die er eben so unverhofft hineingeraten war. Seine Aufenthaltsgenehmigung war damit erloschen.

Mit gesenktem Kopf ging er die grauen Stufen hinab, bis er wieder im Eingangsbereich stand. Dort suchten seine Augen den namenlosen Briefkasten, der zur Wohnung oben gehörte. Er fand ihn wieder, es war der vorletzte in der Reihe. Nun konnte er gehen. Hinter der schweren Holztür offenbarte sich ihm eine Welt in Aufruhr, so nah dran war das Gewitter noch viel heftiger als man es in der Wohnung hätte vermuten können. Berlin würde ihm Regen ersaufen, wenn das so weiterginge. Es war unmöglich von dort wegzukommen, ohne im besten Fall völlig durchnässt und im schlimmsten Fall von einem Blitz erschlagen zu werden. Er ließ die Tür zufallen und beschloss mit der Taxi-App einen Wagen zu rufen.

Die App konnte auf seinen Standort zugreifen und direkt ein Taxi dorthin bestellen. Er machte die Eingaben, gab als Zielort sein Hotel an und war froh zu sehen, dass sich ganz in der Nähe gleich drei Taxis befanden. Umgehend nahm ein Fahrer den Auftrag ein. Zwei Minuten später fuhr der gelbe Wagen vor. P riss die Tür auf und sprintete hinaus, der Fahrer hatte ihm schon die Tür aufgehalten. Er bestätigte ihm, dass er der richtige Fahrgast war und lehnte sich erleichtert in den ledernen Sitz. Im Augenwinkel erhaschte er einen letzten Blick auf jenes Fenster, hinter dem sie wahrscheinlich immer noch saß.

Es war Freitag, nach drei Tagen heftiger Unwetter, klarte es endlich wieder auf und der strahlend blaue Himmel an diesem Tag ließ auf die Rückkehr des Sommers in Berlin hoffen. Irgendwo in Alt-Treptow fuhr ein Taxi vor einem unbenannten Mehrfamilienhaus vor, an dem Fahrer und Beifahrer interessiert emporschauten. „Das ist es!“, rief der Beifahrer, als er das Haus wiedererkannte. Der Taxifahrer lächelte triumphierend. 

„Bitte warten Sie hier, ich bin gleich zurück“, bat der Mann den Fahrer und stieg aus. Es war P, heute in legerer Jeans und kurzärmeligem Hemd gekleidet. Es war der Tag seiner Abreise. In etwa zwei Stunden ging sein Flieger zurück nach Stuttgart, aber davor hatte er noch etwas erledigen wollen, das ihm die ganze Woche keine Ruhe gelassen hatte. Trotz des Unverständnisses seiner Kollegen, hatte er sich ein extra Taxi genommen und ihnen gesagt, er würde sie am Flughafen treffen.

Mit einem leicht mulmigen Gefühl ging er auf die waldgrüne Eingangstür zu, aus der er vor wenigen Tagen so fluchtartig herausgestürzt war. Die Klingelschilder machten jetzt mehr Sinn, da er wusste, dass es einen Innenhof gab. Und tatsächlich fand er auch das Schild ohne Namen, dessen Anblick ihm beinahe den Mut raubte. Beim Eindrücken sah er zum Fahrer rüber, der am Handy hing und ihn erwartungsvoll ansah. Er würde ihn für die Wartezeit entschädigen, hatte er ihm versprochen. Als sich nichts tat, wurde er nervös und trat einen Schritt aus dem Hauseingang heraus, um zur Wohnung hochsehen zu können. Aus diesem Winkel konnte er nichts erkennen, aber als er gerade den Entschluss gefasst hatte zu gehen, kam jemand aus dem Haus gelaufen. Es war eine junge Frau in schwarzen Leggings und schwarzem Shirt. Sie wäre beinahe in ihn hineingelaufen, weil sie auf ihr Handy gestarrt hatte und war umso überraschter, als P sie ansprach.

„Entschuldigung! Wohnst du hier?“, wollte er von ihr wissen.

„Ja. Wieso?“, antworte das Mädchen sehr kurz angebunden.

„Ich will dich nicht weiter stören, aber kannst du mir sagen, wer in der Wohnung 4a wohnt?“

Das Mädchen lachte auf, als sie die Nummer hörte. Wie dumm sich P plötzlich vorkam. Was, wenn das ganze Haus wusste, wer Mona war und was sie arbeitete? Dann hatte das Mädchen allen Grund aufzulachen. Er gab sich den Anschein von geschäftsmäßiger Autorität und hakte nach, was so lustig daran war.

„Na ja“, begann das Mädchen, „ich wohne in der 3a und habe mich schon tausend Mal beim Vermieter beschwert. Der Typ, der eigentlich drin wohnen sollte, vermietet die Wohnung an Touristen. Die sind nur laut! Erst neulich haben ein paar Engländer die komplette Einrichtung zerlegt. Da war sogar die Polizei da. Keine Ahnung, was daraus wurde. Jedenfalls standen die kaputten Möbel eine ganze Weile hier vor dem Haus. Gut, dass ich bald wegziehe. Also wenn du den richtigen Mieter suchst, bist du hier an der falschen Adresse.“

Zwar war P erleichtert, dass hier kein illegales Wohnungsbordell betrieben wurde und er als Freier aufgeflogen war, aber die wahre Geschichte hinter der Wohnung war nicht viel besser. 

„Weißt du, ob die Frau noch da ist, die hier Anfang der Woche gewohnt hat?“

„Ne, die ist weg. Gestern sind zwei Spanier angekommen.“

„Oh…“

„Tja, sorry!“, entschuldigte sie sich und verabschiedete sich einen Moment später. Alleine blieb er auf dem Gehsteig zurück. Das hätte er sich auch denken können, dass es sich um eine dieser privaten Unterkünfte handelte, die in allen Metropolen der Welt gerade aus dem Boden schossen. Seine Chance, Mona je wieder zu sehen, war plötzlich so gering, dass ihm seine Ohnmacht, etwas dagegen zu unternehmen, in die Beine fuhr. Er schwankte. Der Taxifahrer hatte das bemerkt und das Fenster runtergelassen. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich höflich. „Klar, klar, ich komme“, erwiderte P traurig und kehrte zum Taxi zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Dann zum Flughafen Tegel, bitte“, sagte er beim Einsteigen und versank sofort in Gedanken. Während die unendlichen Reihen an Häusern an ihm vorbeizogen, legte er sich eine sozialverträgliche Version der Geschichte zurecht, die er seinen Kollegen erzählen konnte. Er musste nur ein paar Details aussparen. Zunächst ließ er die Sache mit dem Bier weg und natürlich die Wahrheit über ihren Beruf. In jedem Fall würde er auch ihren Namen nicht sagen können oder vielleicht doch? Ihr Gespräch musste er definitiv für sich behalten, um Mona zu schützen. Auch die Sache mit dem Unwetter und der Szene im Bett würde er für sich behalten. Schließlich würde das seine Zuhörer nur auf schmutzige Gedanken bringen, die wiederum eine Verbindung zu ihrem Job zulassen würden.

Und so kürzte er die Geschichte immer weiter ein, bis sie zur langweiligen Rückgabe eines Schlüssels an seinen rechtmäßigen Besitzer verkommen war, den er vor einem x-beliebigen Haus in Berlin gefunden hatte. Eine 30-sekündige Anekdote, die weder witzig noch interessant war. Schlüssel wurden tagtäglich verloren, gefunden und wieder zurückgegeben. Es gab keine Geschichte. Am Dienstagmorgen war er frühstücken gewesen, das war alles. Nichts von Belangen. Und Mona gab es nie. 

Von Lukas Böhl

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