Als ich in Berlin aus dem Zug stieg, drängte ich mich mit Hunderten anderer Passagiere über den Bahnsteig zur Rolltreppe. Dort angekommen, quetschte ich mich mit meinem Rollkoffer durch die Menschenmenge und stand auf den Stufen – die Nase an die Jacke meines Vordermanns gepresst. Hinter mir spürte ich die unangenehme Nähe einer fremden Person an meinem Hintern. Es dauerte mehr als zehn Minuten, bis ich das Gleis erreichte, von dem mein Anschlusszug nach Stuttgart fahren sollte. Ich checkte das Display.
„Scheiß Bahn“, schimpfte ich, als ich sah, dass der ICE fast 50 Minuten Verspätung hatte.
Da ich nicht am Bahnsteig warten wollte, kämpfte ich mich erneut durch das Gedränge in Richtung Hauptausgang. Ein Arbeitskollege hatte mir empfohlen, die Zimtschnecken bei Cinnagold zu probieren, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte. Es gab eine Filiale im Regierungsviertel. Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Währenddessen dachte ich darüber nach, wie die Touristen, die nur diese Seite von Berlin sehen, ein völlig verzerrtes Bild dieser Stadt bekommen.
Das Cinnagold befand sich in einem dieser modernen Gebäude, in denen schicke Restaurants und Cafés für die Abgeordneten und Young Professionals untergebracht sind. Natürlich war die Schlange lang – eine große Influencerin hatte den Laden erst neulich beworben. Ich reihte mich also in die Wartenden ein und versuchte, mit zusammengekniffenen Augen das Menü zu entziffern. Die Auswahl war riesig. Ich zählte über 15 Varianten – und jede davon konnte mit einem halben Dutzend Toppings verfeinert werden.
Die Schlange bewegte sich nur langsam vorwärts. Ich beobachtete, wie die Verkäufer jedes Mal aufs Neue erklärten, welche Sorten es gab, wie sie schmeckten und welche Toppings dazu passten. Je näher ich dem Tresen kam, desto mehr Druck verspürte ich: Ich musste nicht nur die beste Entscheidung treffen, sondern sie auch schnell fällen, um der stetig wachsenden Masse hinter mir nicht im Weg zu stehen.
Vor lauter Grübelei merkte ich gar nicht, dass alle Kunden vor mir bereits bedient worden waren – ich war an der Reihe.
Die schwarzhaarige Frau mit der goldenen Schürze und Mütze sah mich an.
„Was darf’s sein?“
Ich hatte keine Antwort.
„Ähh…“, stammelte ich. „Muss noch kurz schauen.“
Im Schnelldurchlauf ließ ich meinen Blick über die Auslage gleiten, versuchte in Bruchteilen einer Sekunde zu erfassen, welche Zimtschnecke mir am besten schmecken könnte.
Mein Zögern missfiel dem laut telefonierenden Mann im Anzug hinter mir. Genervt kommentierte er:
„Mann, du musst dich doch nur für eine entscheiden.“
Ich drehte mich um und musterte ihn. Bislang hatte ich nur sein Parfum gerochen und seine Stimme gehört. Seine Augen waren hinter einer riesigen Designer-Sonnenbrille versteckt, er kaute nervös Kaugummi, telefonierte und fuhr sich dabei cool mit der Hand durch die pomadierten Haare. Er schaute mich an, aber sah durch mich hindurch. Mir fiel eine Menge ein, was ich ihm sagen wollte. Doch dann hatte ich eine Eingebung. „Ich muss mich nur für eine entscheiden!“
Ich drehte mich um und sagte zu der mittlerweile ungeduldig gewordenen Verkäuferin:
„Ich hätte gerne eine normale Zimtschnecke. Ohne Topping.“
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