Mama? Wir kommen nach Hause!

Es war sein freier Tag. Ben hatte sich mit einer Kühltasche voller Bier, einem Campingstuhl und seiner Angel auf einem Pier am Strand niedergelassen. Seit er wegen des Jobs mit seiner Familie nach Miami gekommen war, hatte er nur wenige freie Tage gehabt. Umso mehr genoß er es, heute für sich zu sein und seinem Lieblingshobby nachzugehen. Das Fischerglück blieb zwar aus, dafür lief es mit den Bieren umso besser. Er hatte sich bereits das zweite genehmigt. Als Ben gerade in die Tasche griff, um das dritte herauszuholen, hörte er Schritte hinter sich. Er drehte den Kopf. Ein älterer, von der Sonne gegerbter Mann in Badehose kam vom Strand her zu ihm gelaufen."

„Hi there!“, sagte der Fremde, als er schließlich neben Ben stand.

„Hello Sir“, grüßte Ben zurück. „Isn’t it a nice day?“

„It is, man. I was just wondering if you wanted to share a beer with an old man.“

„Sure thing. You can have this one. I just opened it.“

Ben überreichte dem Mann sein eben geöffnetes Bier. Dann fischte er eines für sich aus der Tasche und stieß mit ihm an.

„I’m Ben.“

„Carl.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schauten die beiden aufs Meer, während sie die ersten Schlücke nahmen.

„Bist du aus Deutschland?“, fragte Carl schließlich in einem breiten amerikanischen Akzent.

„Ist mein Englisch so schlecht oder was hat mich verraten?“

„Ich war 10 Jahre mit die Army in Deutschland. Ich kenne mich aus mit die Akzent von die Deutsche.“

„Tut gut, mal wieder Deutsch von jemandem zu hören, der nicht zu meiner Familie gehört. Wo waren Sie stationiert?“

„Du kannst ‚Du‘ sagen. Ich war in Stuttgart für zehn Jahren.“

„Stuttgart, natürlich. Dort haben die Amis mehrere Stützpunkte. Ich komme aus Berlin.“

„In Berlin war ich nie. Nur Munich und Cologne. Aber was machst du hier in die Staaten?“

„Ich arbeite für eine deutsche Firma. Die haben mich vor ein paar Jahren rübergeholt, um hier einen neuen Standort aufzubauen.“

„I see. Und hast du eine Familie hier?“

„Ja, meine Frau und meine zwei Kinder sind mit mir gekommen.“

„Die Kinder vermissen bestimmt ihre Oma und Opa. Meine Kids haben immer gesagt ‚When can we see Granny and Grandpa?‘.

„Ich vermisse meine Eltern auch.“

„Wie oft siehst du sie?“

„Dreimal im Jahr vielleicht, manchmal auch nur einmal. Kommt darauf an. Es ist immer eine lange Reise nach Deutschland.“

Nachdem Ben das gesagt hatte, wurde Carl still. Er nahm einen großen Schluck Bier und schaute nachdenklich in den Horizont. Irgendwann stellte er die Frage: „Wie alt sind deine Eltern? Du bist nicht mehr so jung.“

„Ich bin jetzt 49. Meine Eltern sind 78 und 79.“

Carls Gesichtsausdruck veränderte sich, als würden ihn alte Geister heimsuchen. Er brauchte einige Minuten, bis er das Gespräch wieder aufnahm. Die Feststellung, die er daraufhin machte, traf Ben tief im Herzen.

„Wenn deine Eltern noch bis 90 Jahren leben, dann wirst du sie noch 11 Mal sehen“, sagte Carl mit nüchterner Klarheit.

Ben musste schlucken. So hatte er das noch nie gesehen. In seinem Bauch spürte er auf einmal ein schmerzhaftes Ziehen. Es fühlte sich an, als hätte Carl das Tor zu einer Wahrheit geöffnet, die er lange vor sich selbst verborgen gehalten hatte. Scheinbar bemerkte Carl den inneren Tumult, denn er legte eine Hand auf Bens Schulter und sagte in einem väterlichen Ton: „Don’t make the same mistake I made when is was younger. Wir haben nur ein Leben mit die Menschen, die wir lieben. Only your kids will remember that you worked hard. But not in a good way.“

Dann trank er auf einen Zug sein Bier leer, stellte die Flasche zu den anderen, bedankte sich bei Ben, indem er ihm noch einmal versöhnlich auf die Schulter klopfte und lief vor zum Pier. Er machte einen perfekten Kopfsprung in die Wellen. Kurze Zeit später sah ihn Ben aus dem Augenwinkel zum Strand zurückschwimmen. Der aber saß eine ganze Weile nur still da. Er wollte jetzt auf der anderen Seite dieses Ozeans sein. Schließlich nahm er sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seiner Mutter.

„Mama? Wir kommen nach Hause!“

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Von Lukas Böhl

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