Warum wir erwachsen werden müssen

Ich ging die alten Sachen aus meiner Kindheit durch, als ich in einer Kiste eine Steinschleuder fand. Sie hatte einen massiven Metallgriff, dicke gelbe Gummizüge und eine schwarze Lederlasche. Bis auf die eingedrückte Lasche sah man ihr das Alter überhaupt nicht an. Ich nahm sie in die Hand, spannte den Gummizug und visierte die Schnapsflaschen auf meinem Regal an. Das war mit Sicherheit kein Kinderspielzeug. Hier drin einen Schuss abzufeuern, wäre viel zu gefährlich gewesen. Darum beschloss ich, in den Wald zu gehen, um sie zu testen. Es war Sonntag und ich hatte ohnehin nichts vor."

Obwohl es nicht kalt war, zog ich mir eine Jacke über. Sie diente mehr als Versteck für die Zwille denn als wärmende Schicht. Schließlich wusste ich nicht, ob man mit so einer Waffe einfach rumspazieren durfte. Ich steckte sie in die Innentasche und machte mich auf den Weg. Zum Wald waren es etwa 10 Minuten von meinem Haus aus. Doch dann brauchte ich noch mal mindestens 10 bis 15 Minuten, um mich von den Spaziergängern, Joggern und Fahrradfahrern zu entfernen. Als ich endlich an meinem Geheimplatz angekommen war – eine alte Holzbank aus einem massiven Baumstamm mitten im Wald – packte ich die Zwille aus.

Am Boden suchte ich nach einem geeigneten Geschoss. Es sollte nicht zu groß sein, aber auch nicht zu hart. Der Testschuss sollte nicht nach hinten losgehen. Zwischen den Blättern fand ich einige Eicheln, die für den Anfang perfekt waren. Ich legte eine von mittlerer Größe in die Lasche, spannte an und schoss ziellos in den Himmel. Erstaunlicherweise flog das leichte Geschoss bis über die Baumwipfel hinaus, wo ich es aus den Augen verlor. Einen Moment später hörte ich irgendwo hinter mir den Aufprall. Jetzt war ich angefixt. Eine Eichel nach der anderen flog hoch über die Baumkronen hinaus. Noch während die eine in der Luft war, feuerte ich schon die nächste ab. Überall um mich herum schlugen die kleinen Geschosse ein. Ein Rascheln hier, ein hölzernes Klacken dort, dazu die Vögel, die ich wild schimpfend aus ihren Nestern scheuchte.

Das Eichelschießen wurde schnell langweilig. Als Geschosse waren sie einfach zu leicht. Kurzerhand suchte ich mir einige Steine zusammen, sammelte sie auf der Bank und begann nun quer durch den Wald zu schießen. Ich zielte auf einen morschen Stamm, der etwa zwanzig Meter entfernt von mir stand. Der erste Stein verfehlte ihn, der zweite entlockte ihm beim Aufschlagen ein dumpfes Geräusch. Als ich schließlich alle weiteren Steine zielsicher auf mein Ziel abgefeuert hatte, war es an der Zeit, neue zu sammeln und zu testen, wie hoch ich sie in die Luft schießen konnte.

Der erste Stein, den ich gen Himmel schicken wollte, war etwa 2 cm breit und spitz zulaufend. Ich legte ihn mit der stumpfen Seite in die Lasche, zielte nach oben durch eine kleine Öffnung im Blätterdach und ließ ihn dann mit aller Kraft in die Luft sausen. Schnell gewann er an Höhe, so schnell gar, dass ich ihm nicht folgen konnte. Als ich ihn nicht mehr sah, sprang ich reflexartig hinter der Bank in Deckung und hielt die Hände schützend über den Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich ihn in einigen Metern Entfernung krachend durch die Äste fallen hörte, bevor er mit einem dumpfen Schlag auf den Boden aufprallte. Das hätte auch ins Auge gehen können. Nicht nur für mich.

Nachdem ich meine Lektion gelernt hatte, zielte ich mit den Steinen nicht mehr in die Luft. Stattdessen feuerte ich wieder auf den morschen Stamm. Beim nächsten Geschosssammeln fand ich schließlich einen dicken, rundlichen Stein. Klein genug, um noch in die Zwille zu passen, aber groß genug, um einen massiven Schaden anzurichten. Dieser Brummer musste sofort verschossen werden. Keine Zeit zu warten, bis ich noch mehr Steine gefunden hatte. Ich zog die Gummibänder dieses Mal so weit nach hinten, wie ich nur konnte. Dann visierte ich den Baum an und ließ los. Der Stein flog mit einem Zischen durch die Luft, verfehlte sein Ziel und setze seinen willkürlichen Flug in den Wald fort.

Dann hörte ich plötzlich das klägliche Piepen eines Vögelchens. Mein Geschoss hatte ein Ziel gefunden, eines, das lebte. Noch. Ich hörte, wie sich das arme Tier panisch in den Blättern wälzte. Vielleicht hatte ich es nur gestreift, versuchte ich mich zu beruhigen. Vorsichtig folgte ich den Geräuschen. Je näher ich kam, desto aufgeregter wurde das Zwitschern. In den Baumkronen stimmten weitere Vögel in den Klagegesang mit ein. Und dann sah ich ihn. Ein schwarzer Vogel mit gelbem Schnabel, der sich hilflos auf dem Boden wälzte. Eine Amsel. Der Stein hatte ihren rechten Flügel verletzt. Und so versuchte sie vergebens, mit dem heilen linken Flügel aufzusteigen. Es war ein herzzerreißender Anblick. Das alles nur, weil mir langweilig gewesen war. Noch hoffte ich, dass es nicht so schlimm war und ich den Vogel vielleicht zum Tierarzt bringen könnte.

Doch dann sah ich das Blut auf dem Boden. Der Stein musste die Amsel schwer verletzt haben. Ich konnte förmlich zusehen, wie ihr die Lebenskraft ausging. Lange hielt sie nicht mehr durch. Was sollte ich tun? Es gleich beenden mit einem großen Stock? Sie ihrem Schicksal überlassen? Hoffen, dass ein Fuchs sie bald erlöst? Ich war viel zu weit weg von der Stadt und anderen Menschen, um der Amsel rechtzeitig Hilfe leisten zu können. Wenn sie ein Tierarzt überhaupt noch retten konnte. In diesem Augenblick musste ich eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens fällen. Apathisch griff ich zu einem großen Stock, der neben mir auf dem Boden lag. Dann sah ich die Amsel noch ein letztes Mal an, bevor ich ihr Schicksal besiegelte. Ich hatte es begonnen, also musste ich es auch beenden.

Als es vorbei war, hob ich eine kleine Grube aus, um mein Opfer zu beerdigen. Mein Kopf war völlig leer, als ich den Heimweg antrat. Die Zwille warf ich in den erstbesten Mülleimer. Der Weg nach Hause sauste an mir vorbei, als hätte ein höheres Wesen auf die Vorspultaste gedrückt. Aber kaum hatte ich die Haustür hinter mir geschlossen, begann ich zu weinen wie ein kleines Kind.

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Von Lukas Böhl

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