Die Kirchenglocken läuteten an diesem Morgen besonders laut.
Ich war schon öfter durch sie wach geworden, doch dieses Mal war es anders.
Das Geläut klang eindringender.
Es war tief in mein Unterbewusstsein gelangt, um mich aus einem merkwürdigen Traum zu holen.
Als ich endlich die Augen öffnete, merkte ich, wie hell es bereits war.
Es war Sonntag. Die Kirchenglocken luden zum Gottesdienst ein und ich lag im Bett.
Ein überwältigendes Gefühl von Einsamkeit überkam mich, als ich die Decke wegzog und mich aufsetzte.
Ich schlurfte ins Bad und sah in den Spiegel.
Die Augenringe wurden immer dunkler.
Dann nahm ich wieder die Kirchenglocken wahr.
„War es zu spät?“, überlegte ich.
Plötzlich ging alles ganz schnell.
In Windeseile putzte ich mir die Zähne, erledigte das Notwendige und zog mich an.
Mit offenen Schnürsenkeln sprintete ich zur Tür hinaus und die Straße hinauf.
Als ich in die Kirche trat, wurde gerade gesungen.
Ich schloss die schwere Holztür leise und begab mich in die letzte Reihe, wo ich mir ein gelbes Gesangsblatt nahm.
Eine alte Frau schielte mich skeptisch von der Seite an. Doch schnell widmete sie sich wieder dem Gesang.
Ich bewegte die Lippen zum Text, wie ich es in der Schule früher getan hatte.
Als das Lied vorüber war, setzte sich die Gemeinde.
Die Predigt begann.
Nach den ersten Sätzen war mein Verstand bereits abgedriftet, eingenommen von der riesigen Jesusfigur, die leblos über dem Pfarrer hing.
Etwas in den hölzernen Augen sog mich in seinen Bann.
Es war lange her, dass ich so eine Figur gesehen hatte.
Derweil drangen vereinzelt Wortfetzen der Predigt in mein Ohr.
Zwischendrin wurde gesungen.
Ich stand auf, aber sang nicht.
Als die Predigt weiterging, beobachtete ich die Leute, die andächtig nach vorn schauten.
Hier und da begegneten meine Augen dem gelangweilten Blick eines Kindes.
Ich wusste genau, was in den kleinen Köpfen vorging.
Vielleicht war ich selbst nie erwachsen geworden.
Ein neues Lied wurde angestimmt.
Pflichtbewusst stand ich auf.
Dieses Mal sang ich sogar ein paar Worte mit, weil ich das Lied als Schüler im Religionsunterricht oft gesungen hatte.
Doch im Anschluss fielen mir fast die Augen zu.
Ich hatte ganz vergessen, wie langwierig so ein Gottesdienst sein konnte.
Erwies ich denn Gott einen Dienst, wenn ich mich langweilte?
Zum Glück vergingen meine Erwachsenenminuten schneller als die der Kinder.
Ich sah es in ihren Blicken.
Für jede Minute, die ich durchstand, mussten sie mindestens 10 aushalten.
Schließlich erhob man sich für das letzte Gebet.
Aus Anstand betete ich mit.
Nach einem kraftvollen Amen begab sich der Pfarrer durch den Mittelgang zur Tür, um die Gemeinde zu verabschieden.
Reihe um Reihe erhob sich, um ihm zu folgen.
Ich beschloss, sitzen zu bleiben, bis die anderen die Kirche verlassen hatten und mich dann still und heimlich herauszuschleichen.
Ich hatte das Gefühl, nicht hier sein zu dürfen.
Viele neugierige Blicke lagen auf mir, als der Trott an mir vorüberging.
Allerdings ignorierte ich sie und sah zu Jesus ans Kreuz hinauf.
Mein Blick wurde starr, ich verlor mich in den Augen des Erlösers.
Erlöst wurde ich durch eine Hand, die mich sanft an der Schulte anfasste.
Ich erschrak mich so sehr, dass ich einen erbärmlichen kleinen Laut von mir gab.
Als ich den Pfarrer hinter mir sah, entschuldigte ich mich sofort für den Fauxpas.
Er lachte.
„Ich kenne Sie nicht. Doch es freut mich, ein neues Gesicht zu sehen. Das ist selten heutzutage.“
„Normalerweise komme ich nicht her. Aus irgendeinem Grund bin ich heute dem Klang der Glocken gefolgt.“
„Was hat Sie hergeführt?“
Darauf konnte ich nicht gleich antworten.
Seit ich vorhin aus dem Bett gestiegen bin, hatte ein Automatismus übernommen.
Ich hatte gar nicht die Zeit gehabt, mein Verhalten zu reflektieren.
Wieder sah ich Jesus am Kreuz. Sein Blick verriet mir die Antwort.
„Ich wollte sehen, wie viel von Gott noch in mir übrig ist.“
Der Pfarrer hörte meine Worte mit einem geduldigen, gutmütigen Blick an.
Dann sah auch er zu Jesus hoch.
Einen Moment schien es so, als würde er eine göttliche Botschaft empfangen.
Doch war seine Antwort eine sehr menschliche.
„Hören Sie auf zu suchen und fangen Sie an zu geben. So werden Sie erkennen, dass Gott Sie erfüllt. Er war nie weg.“
Selbst wenn ich eine passende Antwort darauf gehabt hätte, hätte ich sie wahrscheinlich heruntergeschluckt.
Denn in der Stille nach der Antwort lag etwas Wahrhaftes.
Worte waren sinnlos.
Und so schüttelte ich die Hand des Pfarrers und drückte mit einem Nicken die Bereitschaft aus, über seine Worte nachzudenken.
Wir verabschiedeten uns mit gegenseitigem Respekt.
Ich verließ die Kirche.
Die Sonne schien und Jesus schaute noch immer von seinem Kreuz herab.