Mein einziger Freund

Es sind zwei Monate vergangen, seit Sam hier in der Wildnis ausgesetzt worden war. Als er sich vor gut einem halben Jahr für die Teilnahme bei der TV-Show „Lone Survivor“ angemeldet hatte, war er noch voller Euphorie und Tatendrang gewesen. Doch jetzt, nach so langer Zeit, in der er auf sich allein gestellt war, merkte er den Verfall deutlich. Er hatte wahrscheinlich ein Drittel seines Körpergewichts verloren. Jeden Tag plagten ihn Schwindel, Kopfschmerzen und Bauchkrämpfe. Oft war er so erschöpft, dass er stundenlang nur daliegen konnte. In diesen Momenten hielten ihn lediglich die Gedanken an seine Familie und die Aussicht auf das Preisgeld von 500.000 Dollar davon ab, zum Satellitentelefon zu greifen und sich vom Rettungsteam abholen zu lassen."

Nie hätte er gedacht, dass ihm die Einsamkeit so sehr zusetzen würde. Zuhause genoss er jeden Moment, den er für sich allein verbringen konnte, abseits von Familie, Freunden und Kollegen. Aber diese Erfahrung hatte ihm gezeigt, wie sehr er die Gesellschaft anderer Menschen brauchte. Das einzige Lebewesen, das ihm hier draußen ab und zu etwas Beistand leistete, war ein Eichhörnchen. Es hatte sich vor einigen Wochen erstmals in seinen Unterschlupf geschlichen, um ihm Beeren und Nüsse zu stehlen. Sam hatte seinen anfänglichen Impuls, den kleinen Besucher zu erschlagen, nur sehr schwer unterdrücken können. Immerhin hätte ihm das Fleisch des Eichhörnchens einige wertvolle Kalorien geliefert. Doch die Aussicht, seine Einsamkeit nur für einen Moment zu unterbrechen, brachte ihm mehr Befriedigung als auf den mageren Knochen dieses kleinen Kerls herumzukauen.

Als das Eichhörnchen am nächsten Abend wieder kam, warf er ihm sogar ein paar Beeren hin, die er sich als Notvorrat aufgespart hatte. Erschreckt durch die plötzliche Bewegung, war das Eichhörnchen zwar zunächst geflüchtet. Doch einige Augenblicke später war es wieder zurückgekehrt. Der kleine Nager kämpfte ebenso ums Überleben wie Sam, mit dem feinen Unterschied, dass er nicht jederzeit aussteigen konnte. Dafür hatte das Eichhörnchen im Vergleich zu Sam einen deutlichen Vorteil. Es war nicht nur leichter, sondern auch schneller, besser im Klettern und viel robuster. Die Besuche des Eichhörnchens häuften sich, bis sie irgendwann fester Bestandteil von Sams Tagesablauf wurden. Bei jedem seiner Streifzüge versuchte er, seinem pelzigen Freund ein paar Nüsse oder Beeren mitzubringen. Je mehr Zeit verging, desto länger blieb das Eichhörnchen in der Wärme von Sams Unterschlupf. Auch traute es sich immer näher zu ihm hin, bis es eines Tages sogar einige Nüsse aus seiner Hand fraß. Das war der Moment, in dem er seinem kleinen Freund den Spitznamen „Alfie“ gab.

Seitdem Alfie ihn regelmäßig besuchen kam, hatte sich Sams Verfassung deutlich gebessert. Er fühlte sich verantwortlich für den Kleinen. Ihm Nahrung zu beschaffen, gab ihm nicht nur eine Aufgabe, sondern auch einen Grund, morgens aufzustehen. Die Kälte, der Hunger, die Einsamkeit – all das ließ sich zu zweit viel besser aushalten. Sam schaffte es sogar, Alfie immer öfter mit der Kamera zu filmen. Einmal war es ihm gelungen, eine geschlagene Minute zu filmen, wie er den Kleinen beim Futtern über den Kopf streichelte. Diese Szene gehörte zu den meistgeklickten im Internet, nachdem die Serie ausgestrahlt worden war. Doch noch war Sam der gnadenlosen Härte der Wildnis ausgeliefert. Der Wintereinbruch kam schnell und erbarmungslos. Die Tiefsttemperaturen überboten sich jeden Tag, bis sie nicht mehr weiter sinken konnten. Und so wurde es nicht nur schwerer für Sam, sich selbst zu versorgen, sondern auch Alfie durchzufüttern.

Zwar vertraute er auf dessen natürliche Fähigkeiten, sich durchzuschlagen. Aber fürchtete er auch, dass Alfie ihn nicht mehr besuchen würde, wenn er ihm kein Essen mehr anbieten konnte. Sich überhaupt noch nach draußen zu wagen, kostete ihn all seine Willenskraft. Der Wind fühlte sich wie ein eisiges Feuer auf dem Gesicht an, im Bart bildeten sich Eiszapfen, die Füße wurden mit jedem Schritt tauber. Alles kostete zehnmal mehr Kraft als es das ohnehin schon hatte. Obwohl es Sam an vielen Tagen nicht gelang, etwas Essbares zu finden, stattete ihm Alfie jeden Abend einen Besuch ab. Vielleicht nur, um zu schauen, ob es nicht doch etwas gab. Sam machte sich nicht die Illusion zu glauben, dass dieses Eichhörnchen ihn ebenso ins Herz geschlossen hatte wie er es. Nichtsdestotrotz schätzte er ihre Zweckfreundschaft für das, was sie war.

Dieser Umstand konnte ihn aber nicht über die harte Tatsache hinwegtäuschen, dass mit dem Wintereinbruch all seine Nahrungsquellen versiegt waren. Der See war zugefroren, das Eis mittlerweile zu dick, um es mit dem Beil durchzuschlagen. Nicht, dass er dafür noch die Kraft gehabt hätte. Die Beeren waren erfroren oder von den Waldtieren verspeist worden. Wild ließ sich kaum noch blicken. Und wenn sich doch ein Hase in eine seiner Schlingenfallen verfing, schnappte ihn sich der Fuchs, bevor Sam die Chance dazu hatte. Seine Vorräte waren mittlerweile ebenfalls aufgebraucht. Nicht ein einziges Stück geräuchertes Fischfilet war noch übrig, keine Beere, keine Nuss. Gar nichts. Sein Bauch fühlte sich an wie ein klaffender Abgrund, der nicht nur sein ganzes Körperfett in sich aufsog, sondern auch Sams Persönlichkeit und Seele verschlang. Er fühlte sich leer, körperlich und mental. Und trotzdem wollte er nicht aufgeben. Das Preisgeld würde für ihn und seine Familie einen Neuanfang bedeuten. Er könnte sich mehr um seine Frau und Kinder kümmern, ohne sich dauernd Sorgen ums Geld machen zu müssen.

Mit quälendem Hunger und nagenden Zweifeln schlief er am 71. Tag nach seiner Aussetzung ein. In der Nacht hatte er einen sehr realistischen Traum, der ihm selbst nach dem Aufwachen so deutlich im Gedächtnis blieb, dass er glaubte, es war eine Eingebung von Gott. Am nächsten Morgen hatte er einen Entschluss gefasst. Den ganzen Tag über verbrachte er damit, aus dem verbliebenen Draht kleine Schlingenfallen zu bauen. Dabei bekam er immer wieder feuchte Augen. Doch er ermahnte sich jedes Mal, hart zu bleiben, und fuhr fort. Gegen Nachmittag war der ganze Bereich um seinen Unterschlupf herum mit Schlingenfallen versehen. Schlingen, die klein genug waren, um ein Eichhörnchen damit zu fangen. In seinen Gedanken sagte er nicht mehr „Alfie“, sondern nur noch Eichhörnchen. Doch dieser mentale Trick konnte die Gräueltat, die er vorhatte, nicht weniger schlimm machen. Er hatte vor, seinen besten Freund zu töten und zu verspeisen. Das einzige Lebewesen, dem seine Existenz hier draußen nicht völlig egal gewesen war. Seinen kleinen Freund, der ihn hatte viel länger durchhalten lassen, als er es sich jemals erträumt hatte.

Am Abend lag er im Bett und lauschte. Jedes Rascheln, jedes Knacksen ließ ihm das Mark in den Knochen gefrieren. Denn jeden Moment könnte dieses Eichhörnchen in eine der Fallen tappen und ums Überleben kämpfen, bis es keine Luft mehr bekam. Irgendwann war die Erschöpfung so groß, dass er in einen traumlosen Schlaf fiel. Am nächsten Tag wachte er auf, bevor die Sonne aufgegangen war. Sofort schnappte er sich seine Stirnlampe und eilte nach draußen. Er suchte jede Falle ab, doch keine war ausgelöst worden. Alfie war also noch am Leben. Die Panik verflog und wich Erleichterung, dann Trauer und Scham. Sam sah sich um. Die Dunkelheit war plötzlich so drückend, als würde sie ihn zu Boden werfen wollen. Die Geräusche verstummten mit einem Mal. Es war totenstill. Sam halluzinierte. Im nächsten Monat fiel er kerzengerade nach hinten um und blieb regungslos im Schnee liegen.

Ein schmerzerfüllter Schrei schreckte ein paar Krähen auf, die in den Tannen den leblosen Körper beobachtet hatten. Plötzlich erwachte er wieder zum Leben. Oder viel mehr zu dem Halbleben, das noch in seinen Körper steckte. Für einen Moment wusste Sam nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war allein. Seine Gliedmaßen waren steifgefroren, alles tat weh. Mit letzter Kraft schleppte er sich in seinen Unterschlupf, wo noch das Feuer der Nacht loderte. Er musste mindestens eine Stunde weg gewesen sein. Mittlerweile war es taghell. Sam entfachte das Feuer. Wieder wurde ihm schwindelig. Er wusste, was jetzt zu tun war. Aus dem Schlafsack holte er das Satellitentelefon heraus. „Ich gebe offiziell auf!“, sagte er, als sich am anderen Ende der Leitung das Rettungsteam meldete. Was dann passierte, kann Sam kaum noch rekonstruieren. Erst, als er in einem Bett im nächstgelegenen Krankenhaus aufwachte, fing sein Gehirn wieder an, die Geschehnisse richtig zu verarbeiten. Der behandelnde Arzt war gerade zufällig im Raum gewesen. „Keine Sorge“, beruhigte dieser Sam, „Das wird schon wieder! Ich frage mich nur, was für ein Nagetier Sie in die Backe gebissen hat und warum …“.

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Von Lukas Böhl

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