Der alte Künstler von nebenan

In der Wohnung gegenüber wohnte ein alter Mann. Bevor er in Rente gegangen war, war er Künstler gewesen, hatte er mir einst erzählt. Seiner Einrichtung nach zu urteilen, war er nicht unerfolgreich gewesen. Neben all den Anekdoten, die er mir aus seinem früheren Leben erzählt hatte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, mir seinen Namen zu nennen. An seiner Klingel stand nur „Maler i. R.“, was entweder Maler in Rente oder Maler in Revolte hieß und von seiner Tagesverfassung abhing. An manchen Tagen pinnte er wirre Zeichnungen draußen an die Tür, die mich auf meinem Weg zur Arbeit ein um das andere Mal aufhielten. Es waren nichtssagende, verworrene Linien, die den willkürlichen Flug einer Fliege hätten beschreiben können. Etwas Kontext schafften lediglich die Überschriften, die die kleinen Kunstwerke trugen: Hass, Liebe, Wut, Sehnsucht. Banale Empfindungen, die mit den Zeichnungen nichts gemein hatten, zumindest nicht, wenn es nach meinem beschränkten Kunstverständnis ging. Meistens waren die Zeichnungen verschwunden, wenn ich wieder nach Hause zurückkehrte. An manchen dieser Tage glaubte ich, Rauch aus seiner Wohnung zu riechen, über dessen Herkunft ich aber nicht weiter nachdachte. Wer konnte schon wissen, was der alte Mann in seiner Wohnung trieb. 

Es trug sich in einer hellen Vollmondnacht zu, dass ich nicht schlafen konnte und auf der Suche nach etwas Ablenkung ziellos durch die Wohnung streifte, als ich vom Flur her ein Geräusch hörte. Es war ein leises Klopfen, das sich nicht wiederholte. Ich lief zum Türspion und sah hinaus. Im Lichtkegel des Flurlichts von der Wohnung gegenüber sah ich den alten Mann, der mit einem kleinen Hammer vor seiner Tür stand und offenbar mit jemandem sprach. Dann sah ich das weiße Papier, das dort an der Tür haftete, vom Durchzug leicht gewölbt. Zum ersten Mal beobachtete ich mit eigenen Augen dieses seltsame Ritual, dessen Sinn sich mir nie erschlossen hatte. Ich wollte hören, was er da faselte. Also drehte ich den Kopf zur Seite und legte das Ohr an die Tür. Doch er sprach so leise, dass ich kein Wort verstand. Aus Reflex presste ich meinen Körper näher an die Tür, wobei mein rechtes Knie etwas unsanfter als gewollt dagegen schlug. Ich erschrak mich so sehr vor diesem Geräusch, dass ich mich auf der Stelle zurückzog. 

Da stand ich nun im Flur und hielt den Atem an, während ich in die mondweiße Dunkelheit hinein horchte. Plötzlich tat es einen lauten Schlag, der mich heftig zusammenzucken ließ. Für einen Moment hörte ich nichts als mein Herz. Doch langsam kehrte mein Gehör zurück und ich vernahm das Klicken des Lichtschalters im Flur. Jemand musste durch den Knall aufgeweckt worden sein. Ich trat wieder zurück an den Spion und warf einen Blick nach draußen. Dort sah ich den kahlen Hinterkopf meines Nachbarn, der jetzt mitten im Flur stand und hilflos zu seiner Wohnung rüber schaute. Seine Tür musste wegen des Durchzugs zugefallen sein. Zunächst überlegte ich, ob ich mich nicht einfach wieder ins Bett schleichen und das Ganze vergessen sollte, doch dann tat er mir leid. Also fasste ich mir ein Herz und öffnete die Tür. Er drehte sich um und sah mich mit einem manischen Blick an. 

„Heute will es einfach nicht gelingen“, teilte er mir mit, als wüsste ich genau Bescheid.

„Was will nicht gelingen? Haben Sie sich ausgesperrt?“, erwiderte ich, geblendet vom grellen Licht dieser schrecklichen Halogenlampen über uns.

„Ja, junger Mann, das hab ich wohl. Aber das ist wirklich nicht das Problem. Da ist etwas anderes, das ich aussperren wollte, aber es will mir einfach nicht gelingen…der Vollmond ist vielleicht schuld. Ihnen scheint er ja auch eine schlaflose Nacht zu bereiten…schleichen durch die Wohnung, wie ein Untoter.“

„Das alte Gebälk hat mich verraten, schätze ich. Was tun Sie hier draußen? Was ist das für eine Zeichnung?“

„Nein, nein, nicht doch. Das ist keine Zeichnung! Das hier, das ist mein Schmerz“, sagte er, auf die Zeichnung deutend. 

„Ihr Schmerz? Wo tut es denn weh?“

„Nicht wo, warum! Zwar mag ich alt sein, aber mehr als mein Alter plagt mich meine Seele. Nennen Sie es Weltschmerz oder Schwermut, ich weiß es nicht, es nagt an mir jede Nacht. Ich versuche, vehement dagegenzuhalten, indem ich ihn zu Papier bringe. Ein bisweilen bewährtes Mittel, nur dieser eine Schmerz, der da unter meinem Herz, manchmal auch in der Bauchgegend sitzt, der will nicht raus. Der hat sich dort verschanzt, als wäre er in mir verwachsen.“

„Also ist jede Zeichnung eine Empfindung gewesen, die Sie nach hier draußen verbannt haben?“

„So ist es…Ach, könnten Sie wohl so nett sein und den Schlüsseldienst rufen. Drinnen ist es doch besser auszuhalten.“

„Natürlich, warten Sie einen Moment.“

Als ich zurückkam, saß er auf der Treppe und begutachtete seine Zeichnung, wie ein Lehrer, der eine Mathearbeit korrigiert. Mir schien, als wäre ihm ein Fehler unterlaufen, den er jetzt ausfindig machen wollte. Vorsichtig trat ich an den Treppenabsatz und beäugte von oben herab die Zeichnung. Sie war wie die anderen, ein schwarzes Linienchaos, das kein Ende und keinen Anfang hatte. Sie erinnerte mich an meine frühe Kindheit und die ersten Versuche zu zeichnen, die ich immer mit solchen wirren schwarzen Linien übermalte, wenn sie mir nicht gefielen. Der Alte schien meinen Blick gespürt zu haben, sah zu mir auf und fragte mit neugierigem Blick: „Was sehen Sie?“

„Linien.“

„Und weiter?“

„Chaos.“

„Noch mehr?“

„Keinen Anfang und kein Ende.“

„Das ist der Schmerz. Er ist da und endet nicht. Ein heilloses Chaos, das bald alles in sich verschlingt, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet.“

„Aber warum die Linien?“, wollte ich wissen, während ich mich neben ihm auf der Treppe niederließ. Der Alte nickte und sah mich eine Weile an, als müsste er sich die Antwort erst zurechtlegen. Dann deutete er auf meine Tür und sagte: „Wenn ich Ihr Bewegungsmuster jeden Tag mit abstrakten Linien wie diesen hier darstellen würde, hätte ich schon bald ein ganz ähnliches Bild. Es gibt Überschneidungen, Abkürzungen, Ausreißer und dicke Linien, die immer die gleiche Route beschreiben, doch eines haben sie alle gemeinsam: sie beginnen und enden an dieser Stelle. Ebenso verhält es sich meiner Meinung nach mit Gefühlen, das heißt, für eine Weile wenigstens. Ich bin kein Arzt und kenne mich nicht mit Gehirnen aus, aber ich stelle mir ein Gefühl vor, zum Beispiel Hass, und versuche seinen Weg durch mein Gehirn nachzuvollziehen. Ich will sagen, ich jage ihm nach, bewaffnet mit einem Bleistift und einem Stück Papier. Ich setze dort an, wo ich das Gefühl zuletzt geortet habe und dann verfolge ich seine Spur, bis wir gleich auf sind und das geht dann immer so weiter. Sehen Sie, Linie für Linie bahnt sich das Gefühl seinen Weg durch mein Gehirn, weil es an vielen Orten gleichzeitig sitzt und sich dorthin flüchten möchte, wenn ich es jage. Aber ich bin schnell, müssen Sie wissen. Und dann: Zack! Habe ich es! Wenn zwei Linien spontan aufeinandertreffen, ist es vorbei, das Gefühl hat sich sozusagen selbst aufgehoben. Vielleicht ist es auch über meine Hand auf das Papier gewandert, das weiß ich nicht genau. Jedenfalls ist ist es dann aus meinem Kopf verschwunden. Das ist der Grund, weshalb ich diese Zeichnungen an die Tür hefte. Ich verbanne sie nach draußen. ‚Verlasst meine Wohnung!‘, sage ich. Und dann verbrenne ich sie. Tja, aber dieser Schmerz, er geht nicht weg…“

In diesem Moment wurde der alte Mann von meiner Klingel unterbrochen, die schrill durchs Treppenhaus hallte. Noch ganz beseelt von seiner Erzählung stand ich auf und ließ den Mann vom Schlüsseldienst herein. Wir konnten ihn mit schweren, müden Schritten die Treppen emporsteigen hören, bis er vor uns stand. „Die da?“, sagte er kurzangebunden, indem er mit dem Kopf zur Tür meines Nachbarn nickte.

„Ja“, sagten wir beinahe synchron.

„Mhm“, murmelte der Mann, zog eine Art längliches Stück Pappe aus einem Koffer und innerhalb von wenigen Sekunden stand die Tür wieder offen. Nach getaner Arbeit drehte er sich zu uns um und fragte: „Wem gehört die Wohnung?“

„Ihm“, antwortete ich auf den alten Mann zeigend.

„Und Sie kennen ihn?“
„Ja, er ist mein Nachbar.“
„Tja, das macht dann fünfzig Euro. Ich schreibe Ihnen schnell eine Quittung.“

„Ist gut, ich hole das Geld.“

Die beiden erledigten die Formalitäten und dann war der Kerl im Blaumann so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Mein Nachbar und ich standen uns nun gegenüber und wussten beide nicht recht, wohin mit uns. Nach einem Moment der betretenen Stille fragte ich schließlich: „Sie wollten vorhin noch etwas sagen, als die Klingel uns unterbrochen hat.“

„Kommen Sie doch auf einen Tee herein. Sie können ja ohnehin nicht schlafen. Genehmigen wir den anderen ihre Nachtruhe.“

Ich nahm die Einladung an, holte schnell den Schlüssel aus meiner Wohnung, zog die Tür leise zu und folgte ihm. In seiner Wohnung wimmelte es nur so von abstrakten Zeichnungen und kleinen Kunstwerken, die er über die Jahre gebaut haben musste. Mein Blick blieb an einer Gitarre haften, deren Vorderseite er durch Glas ersetzt hatte und in dessen Korpus ein Miniaturskelett an einem Strick hing. Er bemerkte, dass ich stehen geblieben war und drehte sich zu mir um. Als er sah, was mich aufgehalten hatte, lächelte er. „Sie sind wohl auch ein Künstler, sonst würde Sie das nicht so packen, hab ich recht?“

„Ich bin nie über den Wunsch hinausgekommen. Was soll das darstellen?“

„Das Schicksal des Künstlers.“

„Weil er wegen seiner Kunst stirbt?“
„Oder in ihr oder mit ihr oder für sie, suchen Sie es sich aus. Das hier ist Kunst.“

„Ein tragisches Motiv.“

„Das glaube ich nicht. Künstler genießen das Privileg, ihre Abgründe in etwas Greifbares zu verwandeln und es der Welt zu überlassen, damit umzugehen. Wer gut genug ist und ständig Neues erschafft, der muss sich nie mit seinen Problemen befassen. Und im besten Fall wird er dafür gefeiert, was er den Leuten da vorsetzt, weil es ihnen wiederum Ablenkung von ihrem Alltag verschafft.“

„So habe ich das noch nie gesehen. Eine pessimistische Ansichtsweise, finden Sie nicht?“

„Nicht, wenn Sie selbst von dem Drang zu erschaffen gequält werden.“

„Wenn Sie Ihre Kunst so quält, warum haben Sie sich dann nicht für ein anderes Leben entschieden?“

„Mit dieser Frage habe ich vor langer Zeit abgeschlossen. Ich kann es Ihnen nicht erklären, sehen Sie, in gewisser Weise musste ich diesen Weg einschlagen. Es blieb mir nichts anderes übrig.“

„Ich hoffe, Sie haben es nie bereut.“

„Nie. Und jetzt kommen Sie, ich mache uns Tee.“

Wir saßen in seiner Küche und tranken Ingwer-Kurkuma-Tee aus roten Tasse an seinem bunten Tisch mit den gelben Stühlen. Jedes Möbelstück war so individuell, wie seine Kunstwerke, die alles um uns herum verzierten. Er redete schon die ganze Zeit über die Vervollkommnung der Kunst oder dem, was er dafür hielt. Seiner Meinung nach spielten weder Erfolg noch Anerkennung eine Rolle, sondern es ging darum, dass der Künstler eines Tages vollständig in seinen Werken aufging. Es verglich es mit den Tricks der Zauberer, die vermeintlich von der Bühne verschwanden, mit dem Unterschied, dass es in der Kunst echt war. Ich musste an Buddha und sein Nirwana denken, dann wieder an das Skelett in der Gitarre. Irgendwann konnte ich nur noch zuhören, wir waren in solche Sphären gelangt, dass ich der Unterhaltung nichts mehr hinzufügen konnte. Ich hatte ja gewusst, dass er ein Exzentriker und Sonderling war, aber seine seltsame Theorie schien für ihn nicht nur so eine zu sein. Mir schwirrte ganz der Kopf, als er endlich mal Luft holte, um einen Schluck Tee zu nehmen. Erst jetzt bemerkte ich die Stille der Nacht, die uns umgab. Nur das unverhältnismäßig laute Ticken der Uhr war zu hören. Alles um uns herum wurde vom Mond in ein träumerisches Licht gehüllt und für eine Weile wähnte ich mich in einem Traum. Doch als er wieder anfing zu sprechen, fiel mir ein, dass ich nicht schlief und umso mehr Zeit verging, umso müder würde ich am nächsten Tag bei meiner tatsächlich realen Arbeit sein. So gerne ich das Gespräch weiter fortgesetzt hätte, so sehr musste ich mich zusammenreißen, um am nächsten Tag nicht völlig arbeitsunfähig zu sein. Der Alte verstand das, gab mir aber zu verstehen, dass ich all das, was er mir heute Nacht gesagt hatte, nicht vergessen sollte. Ich würde es eines Tages verstehen, vielleicht schon sehr bald. Seine Worte drangen nur noch stückchenweise zu meinem vom Schlafentzug lahmen Hirn vorn. Ich nickte freundlich und versprach ihm, wiederzukommen. 

Am nächsten Morgen, nach etwa drei Stunden Schlaf, kam mir unsere Begegnung schemenhaft vor, wie in einem Traum, in dem man träumt, zu träumen, an dessen Schichten man sich aber verschwommen erinnern kann. Es wunderte mich, dass ich keine Zeichnung an seiner Tür sah, als ich die Wohnung verließ. Offenbar hatte er seinen Schmerz nicht verbannen können. Schade, dachte ich und lief die Treppe hinunter. Den ganzen Tag über beschäftigte mich seine Theorie. Ich wollte ihn nochmal eingehend dazu befragen. Am Abend hatte ich jedoch so viel zu tun, dass ich es nicht mehr schaffte, ihn zu besuchen. Dann verging ein weiterer Tag, dessen Pflichten mich einnahmen und dann ein anderer, bis die Woche rum war. Bald waren es zwei, drei und vier, in denen ich den Alten nicht mehr gesehen hatte. Weder ihn, noch eine seiner Zeichnungen. Jedes Mal, wenn ich an seiner Wohnung vorbeiging, stellte ich mir vor, wie er da drinnen saß und wieder und wieder seinen Schmerz aufzumalen versuchte, hungrig, zerzaust, befreit von Raum und Zeit. Die Vorstellung erheiterte mich jeden Morgen und motivierte mich dabei, mehr in meiner Arbeit aufzugehen.

Doch nach sechs Wochen ohne Sichtkontakt begann ich mir Sorgen zu machen. Er war nicht mehr der Jüngste und nach allem, was ich wusste, hatte er keine Kinder, die nach ihm hätten sehen können. Eines Morgens traf ich die Nachbarin von oben im Flur und erkundigte mich bei ihr, ob sie ihn gesehen oder gehört hatte. Sie verneinte das und vermutete, er sei vielleicht verreist. Das erschien mir unwahrscheinlich. In all den Jahren, die wir schon Nachbarn waren, hatte ich nie etwas von einem Urlaub mitbekommen. Also klingelte ich. Drinnen war es still, auch nach erneutem Klingeln tat sich nichts. Am Abend klingelte ich wieder und klopfte sogar ein paar Mal gegen die Tür. Wieder tat sich nichts. So ging das noch drei Tage weiter, bis ich beschloss, etwas zu unternehmen. Zunächst überlegte ich, wieder den Schlüsseldienst zu rufen, doch dann schoss mir der schauerliche Gedanke in den Kopf, dass er bereits tot war, wie man das in den Nachrichten ab und zu hört. In diesem Fall müsste man sowieso die Polizei rufen. Also beschloss ich, direkt dort anzurufen. Die Frau am Telefon war zunächst skeptisch. Erst, als ich sagte, der Mann habe keine Verwandtschaft, wollte sie einen Wagen vorbeischicken. Ich saß auf der Treppe, wie damals mit ihm und malte mir das Schlimmste aus. Eine Leiche hatte ich noch nie gesehen. Wenn er wirklich tot war, wollte ich die Wohnung gar nicht betreten, dachte ich. Die Polizisten sollten alleine reingehen. Und dann wartete ich. 

Nach einer kleinen Ewigkeit, klingelte es endlich an meiner Tür. Ich öffnete und kurze Zeit später standen zwei Polizisten vor mir. Eine Frau und ein Mann mit ernsten Gesichtern. „Sie haben angerufen?“, wollte die Frau wissen.

„Ja, richtig. Ich bin der Nachbar. Seit Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen. Auch die anderen Leute im Haus wollen ihn nicht gesehen haben. Da er alt ist und alleine wohnt, dachte ich, es wäre gut, mal nach ihm zu sehen.“

„Das stimmt. Danke, dass Sie uns angerufen haben. Haben Sie einen Schlüssel?“
„Nein, sonst wäre ich längst rein.“

„Probier mal zu klingeln.“

Der Polizist klingelte. Ich hätte ihm auch sagen können, dass niemand aufmachen würde, aber anscheinend mussten sie das tun und ich hatte ja keine Ahnung, wie man sich in so einer Situation verhält. Ich saß auf den Treppenstufen und versuchte, mich unverdächtig zu verhalten. Es folgten zwei weitere Versuche, den Alten aus seiner Wohnung zu locken, die beide unbeantwortet blieben. Jetzt treten sie die Tür ein, dachte ich. Leider lag ich falsch, stattdessen riefen sie den Schlüsseldienst an. Der ließ dieses Mal auf sich warten. Obwohl ich den beiden Platz auf der Treppe gemacht hatte, setzten sie sich nicht neben mich. Wir machten ein wenig Smalltalk, schwiegen und warteten wieder. Als der Mann vom Schlüsseldienst endlich kam, waren wir alle sichtlich erleichtert. Es war derselbe Typ wie damals. „Ich kenne die Tür“, sagte er, sah zu mir und fügte hinzu, „den auch!“ Was mit dem alten Mann sei, wollte er wissen. Das wollen wir herausfinden, sagte ich. 

„Oh“, antwortete er und erledigte seinen Job innerhalb von 10 Sekunden. Die Tür war nicht abgeschlossen gewesen. Ein unfehlbares Zeichen für mich, dass mein Nachbar tot in der Küche lag. Der Schlüsseldienst zog von dannen und ich blickte den Polizisten hinterher, die sich in die Wohnung begaben. Nicht ohne vorher nach ihm zu rufen. Keiner da, der antworten konnte. Als ich die beiden nicht mehr sehen konnte, packte mich dann doch die Neugier und ich sprang hinterher. Die Wohnung roch…normal! Weder Fäulnis noch Verwesung stiegen mir in die Nase. Ein gutes Zeichen, dachte ich. Ich folgte den Stimmen der beiden und fand sie schließlich in seinem Arbeitszimmer. Als ich eintrat, hörte ich den Mann gerade sagen: „Sieht aus, als hätte er eben noch daran gearbeitet.“

„Seltsames Bild“, kommentierte die Polizistin das Kunstwerk, das vor ihr auf dem Boden lag. Es war umgeben von vielen kleineren Zeichnungen, die ihm sehr ähnelten: schwarze Kreise um Kreise um Kreise. Wie die etlichen Zeichnungen, die einst an seiner Tür hingen, nur sehr viel größer. Die beiden wollten wissen, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe. 

„Na, vor sechs Wochen oder so. Da hat er mich zum Tee eingeladen, weil wir beide nicht schlafen konnten.“

„Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“
„Nein, deswegen rief ich ja an.“

Die Polizistin sah sich im Zimmer um: „Auf mich wirkt die Wohnung schon länger verlassen. Die Zeichnung lässt vielleicht etwas anderes vermuten, aber alles hier ist so staubig, als wäre schon einige Wochen niemand mehr hier gewesen. Wissen Sie, ob der Mann Verwandtschaft hat?“

„Das denke ich nicht. Er hatte nicht so oft Besuch, das heißt, eigentlich nie.“

„Hat er denn ein Handy?“
„Kann ich nicht sagen. Seine Nummer hat er mir jedenfalls nie gegeben.“

„Verstehe. Da er nicht als vermisst gemeldet wurde, müssen wir im Moment davon ausgehen, dass er verreist ist.“

„Wahrscheinlich“, pflichtete ich bei. „Ich wollte nur sichergehen, dass ihm nichts zugestoßen ist.“

„Sie haben ganz richtig gehandelt. Haben Sie doch ein Auge auf die Wohnung. Falls er in gegebener Zeit nicht auftaucht, können Sie die Kollegen nochmal verständigen.“

„In Ordnung. Das werde ich machen.“

Ich begleitete die Polizisten nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Im Flur verabschiedeten wir uns und ich ging zurück in meine Wohnung. Dass der Alte verreist sein sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Noch bis spät in die Nacht machte ich mir Gedanken darüber, was ihm wohl widerfahren war.

Etwa zwei Wochen später hörte ich abends plötzlich ein energisches Klopfen auf dem Flur. Leise schlich ich zur Tür und schielte durch den Spion nach draußen. Dort sah ich unsere Vermieterin, die gerade erneut gegen die Tür hämmerte mit ihren dicken Fingern. Anscheinend öffnete er nicht. Irgendwie belustigte mich der Anblick, wenigstens so lange, bis sich Frau S. umdrehte und mit ernster Miene auf meine Tür losmarschierte. Ich ging einen Schritt zurück, sonst hätte mich ihr Klopfen bestimmt umgehauen. Dass es eine Klingel gab, schien ihr wohl egal zu sein. Ich zählte bis drei, bevor ich aufmachte, um nicht den Anschein zu erwecken, als hätte ich sie beobachtet. 

„Guten Abend, Herr T.“
„Guten Abend, Frau S.“
„Ihr Nachbar, haben Sie den gesehen in letzter Zeit?“
„Nein. Hat sich denn die Polizei nicht bei Ihnen gemeldet?“
„Oh Gott! Die Polizei! Was in aller Welt ist passier?!“
„Beruhigen Sie sich. Noch ist nichts passiert. Ich habe neulich die Polizei gerufen, weil ich mir Sorgen um ihn gemacht habe. Jedenfalls haben die einen Schlüsseldienst gerufen, der die Tür geöffnet hat. Allerdings war Herr G. nicht anwesend.“
„Aha! Wieso erfahre ich erst jetzt davon?“
„Die Polizisten meinten, dass ihn niemand vermisse und er vermutlich verreist sei.“
„So so, verreist also. Seit zwei Monaten hat er die Miete nicht gezahlt. Jeder Anruf geht ins Leere und seinen Briefkasten leert er offensichtlich auch nicht mehr.“
„Warum rufen Sie ihn nicht jetzt an? Vielleicht hören Sie sein Handy da drin klingeln?“
„Ausgezeichnete Idee! Hier, ich werde es gleich versuchen.“

Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche, stand vor die Tür und ließ es klingeln. Einen Moment später konnten wir im Inneren tatsächlich einen Klingelton hören.

„AHA! Herr G.! Kommen Sie sofort raus, ich hör doch das Handy“, brüllte sie und schlug erneut gegen die Tür. Es war vergebens, sein Handy mochte vielleicht da drin gewesen sein, er selbst war es aber schon lange nicht mehr. Jetzt drehte Frau S. völlig am Rad, sie fluchte und schrie, drohte mit dem Anwalt und schob dann einen Brief durch den Türschlitz. Mich beachtete sie derweil gar nicht mehr. Nicht einmal „Tschüss“ konnte sie in ihrem Ärger noch sagen. Sie polterte wütend die Treppe runter. Einen Moment später hörte ich die Eingangstür knallen und dann war sie weg. Ich warf noch einen Blick auf die Tür, ob er nicht doch öffnete und musste schnell feststellen, dass Herr G. nicht mehr hier war. 

Eine Weile tat sich nichts und beinahe hätte ich die Sache vergessen. Doch als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, stand ein Umzugswagen vor der Tür und zwei Arbeiter luden gerade die Küchenmöbel von Herr G. ein. Den Tisch und die Stühle erkannte ich sofort wieder. Eine schreckliche Vorahnung überkam mich. Ich zwängte mich an den Möbelpackern vorbei und rannte die Treppen hoch. Vor seiner Wohnung standen schon die nächsten Gegenstände bereit. Die Tür war offen und aus ihr drang die gereizte Stimmte von Frau S. „Wie kann man nur so viel Schund besitzen?!“

Ich verzichtete darauf, zu klopfen und trat ein. Frau S. stand in seinem Arbeitszimmer und wusste nicht, wohin mit sich. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie mich gar nicht eintreten hat hören und bei meinem Anblick erschrocken zusammenfuhr. 

„Wie können Sie mich so erschrecken?“, ging sie mich an. Doch eine Antwort wollte sie gar nicht haben, ich war gerade richtig gekommen, um mir ihre Tirade anzuhören. „Schauen Sie sich das an, das ganze Zimmer ist voll mit diesen Kritzeleien und wo man auch hinfasst, da taucht noch mehr Gerümpel auf. Ich sag Ihnen was, der alte Spinner hat das nicht mehr ausgehalten und hat sich aus dem Staub gemacht, ohne Ausweis, ohne Schlüssel, ohne Handy. Bestimmt ist er in irgendeiner Kommune untergekommen, wo sie jetzt über mich arme Frau herziehen. Und ich darf seinen ganzen Scheiß hier rausschaffen und auch noch für die Entsorgung bezahlen. Was schauen Sie denn so? Wollen Sie etwas davon haben? Greifen Sie zu! Es gehört alles Ihnen.“

Tatsächlich gab es zwei Stücke, die ich haben wollte. Zum einen die Gitarre mit dem Skelett, die bereit zur Mitnahme im Flur stand, und dann das große Gemälde, das immer noch dort auf dem Boden lag und vermutlich das letzte war, woran Herr G. gearbeitet hatte. 

„Die zwei Sachen würde ich nehmen.“

„Nur die zwei? Nehmen Sie sie, na los. So eine scheußliche Zeichnung, als hätte ein Kind hier gelebt.“

Ohne noch etwas zusagen, schnappte ich mir die beiden Kunstwerke und ging rüber. Die Gitarre hing ich ins Wohnzimmer neben das Bücherregal, das Gemälde lehnte ich fürs Erste an die Wand. Es hatte etwas Besonderes an sich, etwas Eigensinniges, ja, es besaß Charakter. Seitdem habe ich viele Abende damit verbracht es zu studieren und immer wenn ich es ansehe, muss ich an ihn denken: Den Künstler von nebenan, der klammheimlich verschwunden war. 


 

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Von Lukas Böhl

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