Ich war am Boden zerstört. Nie hätte ich gedacht, dass es so enden würde. Die ganzen Jahre mit einem Mal dahin. Jetzt saß ich im Auto und fuhr ziellos durch die Nacht. Die Dunkelheit lullte mich ein. Ich existierte nur noch in der kleinen Welt, die meine Scheinwerfer beleuchteten. Nur selten begegnete ich anderen Nachtschwärmern. Vielleicht waren sie genauso verloren wie ich. Vielleicht fuhren sie zur Arbeit.
Das Radio spielte per Bluetooth die traurigste Playlist ab, die ich auf die Schnelle auf Spotify hatte finden können. Sie erfüllte ihren Zweck außerordentlich gut. Jede Schnulze, die es auf dieser Welt gab, kam darin vor. Und bei den meisten konnte ich wenigstens den Refrain mitsingen, um für eine Weile nicht an das, was hinter mir lag, zu denken. Trotzdem schlichen sich die Gedanken immer wieder in mein Bewusstsein, wurden von meinem Verstand analysiert und von meinem Körper zu Tränen verarbeitet.
Es war stickig. Ich öffnete die Fenster, um etwas frische Luft herein zu lassen. Der Fahrtwind trocknete meine Tränen. Aber sie hörten nicht auf. Genauso wie die Straße unter mir niemals aufhörte. Ich musste einfach nur weiterfahren. Irgendwann würde ich einen Vorsprung zu meinen Gedanken haben. Und dann hatte ich möglicherweise die Chance, ihnen ganz zu entfliehen.
Mein Weg führte mich nach einer Weile in eine Stadt. Kein Mensch war mehr wach. Nirgends brannte Licht. Die Kneipen sahen leer und verlassen aus. Doch aus irgendeinem Grund ließ man in dieser Totenwelt die Ampeln an. Wahrscheinlich wollte man verhindern, dass sich die Geisterfahrer gegenseitig ins Jenseits beförderten. Ich hielt an. Mit einem Mal stand die Luft. Es war sommerlich schwül in dieser Mainacht. Jetzt erst achtete ich wieder auf den Song, der lief. „She will be loved“ von Maroon 5.
Die erste Strophe war gerade zu Ende, der Pre-Chorus setze ein. Ich machte mich fertig. Als Adam Levines klagende Stimme schließlich für einen Moment stoppte, um den Refrain anzukündigen, war ich bereit. Mit voller Stimme rief ich in die Nacht „I don’t mind spending every day out on your corner in the pouring rain!“ Ich hatte das Lied lange nicht gehört, aber die Lyrics saßen noch. Die Stimmung des Songs passte perfekt zu meiner Situation.
Während ich vor mich hin sang an und die Ampel weiterhin Rot zeigte, hörte ich von irgendwoher eine andere Stimme. „And she wiiiiiiillll be looooooved!“, schrie eine leicht lallende Frauenstimme aus voller Kehle. Ich antworte mit genauso viel Inbrunst: „And she wiiiiiiillll be looooooved!“ Dann wieder sie. Nochmal ich. Und schließlich wir beide zusammen. Wir trafen zwar die Töne nicht, doch unsere Stimmen waren auf den Punkt synchron.
In dieser zufälligen Harmonie schafften wir es, den ganzen Song runterzurattern. Als er zu Ende war, fühlte ich mich erleichtert. „Liebe ist scheiße!“, schrie die junge Frau, deren Aufenthaltsort ich noch immer nicht hatte ausmachen können. Als ich gerade zustimmen wollte, brüllte eine tiefe Männerstimme: „Du bist scheiße! Euer Gesang ist scheiße! Verpisst euch endlich! Andere Leute schlafen!“ Dann hörte ich nur noch ein lautes Lachen. Ich stimmte ein und trat aufs Gas. Mit quietschenden Reifen fuhr ich davon.