Herr vom Ende

Herr vom Ende saß in einer Zelle. Sie war gerade groß genug, um darin umhergehen zu können. Zwei Schritte hin und zwei zurück. Sie besaß ein kleines Fenster, das so hoch über dem Boden lag, dass nur Sonne und Mond sich weit genug emporheben konnten, um hindurch zu blicken. Herr vom Ende aber wusste nicht was jenseits des Fensters lag. Auch wusste er nicht mehr, weshalb er hierhergebracht worden war geschweige denn, wer ihn hierhergebracht hatte. Viel zu viel Zeit war bereits vergangen.

Die Tage hatte er nie gezählt. Vielmehr glaubte er, schon immer hier gewesen zu sein. Pünktlich um 7, 12 und 5 Uhr öffnete sich die kleine Luke in der Tür, durch die jemand Essen in die Zelle schob. Jeweils zur halben Stunde wurde es durch dieselbe Luke von Herr vom Ende wieder zurückgegeben. Wer ihm das Essen brachte, das wusste er nicht. Und so vertrieb er sich die Stunden mit Auf- und Abgehen und grübelte darüber nach, was wohl jenseits seiner Zelle liegen mochte. Mehr Zellen, mehr Inhaftierte? Wessen hatten sie sich schuldig gemacht?

Jeden Morgen grüßte er die Sonne und jeden Abend den Mond. Zwei Besucher auf die noch immer Verlass war. Ansonsten besuchte ihn keiner. Sein Bett war hart, doch es reichte ihm. Nachts träumte er von seiner Zelle, tagsüber wachte er darin. Sein Leben war die Zelle und die Zelle sein Leben. Manchmal da hörte er draußen Geräusche. Hier ein Rufen, ein Klappern, Kettenrasseln, eine Maus, die vorüberhuschte. Was waren das nur für Menschen?

Er wünschte sich, sie könnten zu ihm hineinsehen. Jeden Abend saß er auf dem Bett und wiederholte diese Worte, fast wie ein Gebet an den Gott außerhalb der Zelle, an den Erschaffer. Er saß und stand, ging und hielt inne, schlief und wachte und wünschte sich nur, sie könnten zu ihm hineinsehen. Eines Tages erwachte er aus einem angenehmen Zellentraum. Es war noch nicht Zeit, die Sonne zu begrüßen, doch der Mond hatte sich schon verabschiedet. Welch Unordnung in der Zelle herrschte.

Er sah auf und erblickte die Zellentür oder vielmehr das, was dahinter war. Jemand hatte eine gläserne Tür eingebaut. Und siehe da, er sah nichts. Seine Augen waren nicht an das gewohnt, was er nun ansah und so verweigerten sie ihm den Anblick. Ein grauer Schleier legte sich darüber. Bewegung nahm er nur in Geräuschen wahr. Konnten sie ihn sehen? Konnten sie endlich zu ihm hineinsehen?

Das Gefühl war erst neu und aufregend. Doch dann wurde es immer unangenehmer. Er fand keiner Freude mehr im Auf- und Abgehen, im Sitzen und im Stehen, ja nicht einmal seine Träume waren mehr schön. Er träumte nicht mehr von seiner Zelle, sondern von dem was dahinter lag. Eines Nachts ertappte er sich gar dabei, wie er sich fragte, wohin wohl das Fenster blickte.

Sein ganzes Leben hatte er nur die Zelle gekannt und auf einmal wurde ihm dieses Wissen entrissen. Jetzt war sie fremd und kühl und ungemütlich. Keine Zelle zum Leben. Sein Essen rührte er nicht mehr an. Es kam und verschwand. Dieses giftige Etwas aus dem Jenseits, es verdarb seine Zelle. Da weinte er bitterlich und flehte, man solle die Tür wieder einbauen, schlug mit den Fäusten gegen die Wände und wollte sich Gehör verschaffen.

Am nächsten Tag wachte er wieder mit verschlossener Tür auf, da fühlte er für den Bruchteil einer Sekunde die Normalität wieder in sich aufblitzen. Doch dann sah er sich um und erkannte, dass die Zelle nicht mehr dieselbe war. Es machte ihn wahnsinnig zu wissen, dass es nie wieder so werden würde wie früher. Seine Zelle war ihm nun ekelhaft vertraut. Und so saß er da und sagte, er wünschte, sie könnten in ihn hineinsehen. Ja, seinen Brustkorb entzweien und in ihn hineinsehen. Dann würden sie verstehen. Gute Nacht Mond, guten Morgen Sonne. Am nächsten Morgen war er tot.


 

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Von Lukas Böhl

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