Baumwerdung

Da war ein kleiner Setzling, bestimmt ein großer Baum zu werden; mit starken Ästen und vollem Blätterdach; ein Heim für Vögel, Eichhörnchen und Insekten. Er wuchs dorthin, wo die Sonne stand und in seinem ersten Jahr fast zehn Zentimeter. Von anderen Bäumen wusste er nichts, noch hielt er sich für einmalig. Seine Äste wuchsen, weil die Natur es so wollte. Eines Tages, da fiel ein Schatten auf ihn und zum ersten Mal die Erkenntnis, dass es noch andere gab; solche, die schneller wuchsen und prächtigere Blätterkronen trugen, die all das Licht für sich beanspruchten; aber auch solche, die klein und schwach von Wuchs waren und bald im Schatten der anderen eingingen.

Jeder wuchs für sich und ohne Rücksicht auf Verlust. Licht war begrenzt dort im dunklen Wald; und so reckte und streckte er sich, verbog und drehte die Äste, wand sich, wo er nur konnte, aus dem Schatten der Großen. Und so wuchs er zur Seite, nicht länger nach oben; mit krummem Stamm ragte er aus dem Wald hinaus, in dem die anderen geraden Stammes standen und hoch über dem Waldboden thronten. Ach, wie gerne wollte er verwelken und lieber sterben, als ein halber Baum im Schatten seiner Artgenossen zu bleiben.

Viele Winter kamen und nahmen die wenigen Blätter, die an seinen Ästen hingen. Den Wintern folgten die Sommer, in denen er kümmerlich ergrünte, während alles um ihn herum farbenfroh erblühte. Und nur ab und an hielt eine verirrte Katze im Sommer ein Schläfchen auf ihm, während die Vögel in den Blätterdächern über ihm ihre Jungen großzogen, von denen die Katze so manches holte. Er jammerte und heulte mit dem Wind, Jahr für Jahr brach er ein weiteres Ästchen von seinem krummen Stamm; und er gab es gerne hin, in der Hoffnung, der Wind würde auch ihn eines Tages zum Fallen bringen.

Traurig sah er den Blättern nach, die im Herbst in alle Richtungen davonflogen, bis sie im Frühling erneut wuchsen. Während er nur noch spärlich wuchs, legten seine Kameraden mehr und mehr zu. Nicht länger wollte er zu ihnen gehören. Er sah zum Gras, den Büschen und sogar den Tieren, doch nichts und niemand hielt bereit, wonach er suchte. Sein Zuhause war hier zwischen den Bäumen, doch eine Heimat war es nie gewesen.

Dann aber, es war im Sommer, als die Schatten der anderen ihn zu erdrücken drohten und er schon seinen Stamm im Laub verrotten sah, da geschah es, dass eine Menschenfamilie das Waldstück kaufte. Bald war der Wald voller Stimmen und kurz darauf folgten die Motorsägen. Da wusste er, es war soweit und bereitwillig wollte er sich seinem Schicksal fügen, bog die Äste weit nach unten. Aber die Menschen liefen an ihm vorbei und schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Seine Kameraden fielen, einer nach dem anderen, einer stolzer als der andere. Mit einem Mal bekam er wieder Licht und das Leben kehrte in ihn zurück, jetzt, da es zu spät war.

Noch einmal wollte er die Äste von sich strecken, der Sonne entgegen. So wartete er alsdann in Würde auf den Tod. Schon kamen sie mit ihren Seilen und Äxten, jeden Moment war es soweit. Sie warfen ein Seil hoch über seinen dicksten Ast. Das musste es sein, so fühlt sich sterben an. Und banden es ganz fest. Sie befestigen ein Stück Holz daran. Das war es dann. Doch statt der Motorsäge ertönte Kinderlachen und bald wiegte er sanft ein kleines Mädchen in einer Schaukel hin und her. Plötzlich war die Angst vergessen, die Scham wie weggeblasen und er erkannte, dass er als einziger noch stand.

Licht schien auf ihn und das Mädchen flog auf und ab. Nie glaubte er, war er für etwas anders bestimmt gewesen und keine Säge kam ihm je zu nahe. Er sah das Mädchen erwachsen werden, und schließlich dessen Kinder und Kindeskinder. Und wer heute auf die Lichtung tritt, der erkennt den Baum nicht wieder. Einzig eine verschlissene Schaukel erinnert an seine Geschichte.

 

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Von Lukas Böhl

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