Minifurz und der lange Sommer

Maxi, Cem und Jan streiften ziellos durch die Straßen Nordstettens. Die Sommerferien waren nun an einem Punkt angelangt, an dem sie zäh wurden und die Jungs sich insgeheim wünschten, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Natürlich hätten sie das niemals untereinander zugegeben und so blieb es nur ein Gedanke. Einer von vielen an diesem zwar wolkenbehangenen, aber schwül-heißen Tag im September. Obwohl sie schon so viel erledigt hatten, schien der Tag immer noch endlose Stunden übrig zu haben. Sie waren oben am Wasserturm gewesen, hatten vergeblich versucht, die Kühe auf der Wiese unterhalb mit Gras zu füttern, haben einige Runden Versteckverbrennen auf dem Schulhof gespielt und Dreckklumpen über die hohe Hecke des Rektors geworfen, der den ganzen Sommer bei Verwandten in der Schweiz verbrachte.

Nichts davon hatte die erhoffte Befriedigung gebracht, ohne die sie nicht nach Hause gehen wollten. Sonst wäre es ein verschwendeter Tag gewesen und es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass nicht ein Tag, den man draußen mit den anderen Jungs verbringen konnte, verschwendet werden durfte. Maxis abgelatschte Sohlen schlürften über den von der trüben Sonne erwärmten Asphalt. Cem zog einen kleinen Ast durch die fein säuberlich getrimmten Hecken an den Gärten und Jan fummelte an einem Loch in seiner Hosentasche, das immer weiter aufriss. Wie von Geisterhand gelenkt, bogen sie in die Habspergstraße ein, der sie bis zum Spielplatz folgten, wo Maxi schließlich vorschlug, auf die Schaukeln zu sitzen.

Der kleine Spielplatz lag inmitten der Wohngebäude und wurde von deren Gartenzäunen und Hecken eingefriedet. Neben zwei Schaukeln gab es eine Wippe, eine rote Rutsche, von der bereits der Lack abblätterte und eine Sitzbank für die Eltern. Maxi und Cem sprinteten schnell zu den Schaukeln. Jan, der zu langsam gewesen war, musste sich mit der Rolle des Anschuckers zufriedengeben. Immer, wenn einer der beiden in der Rückwärtsbewegung in seine Reichweite gelangte, verpasste er ihm einen starken Stoß.. „Stärker“, feuerte ihn Maxi an, der unbedingt einen Überschlag schaffen wollte. Cem war nicht ganz so übermütig und schwang mit Absicht nicht so stark mit den Füßen wie er, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Also konzentrierte sich Jan nur noch auf Maxi. Seine kurzen Arme hatten alle Mühe, die Schaukel in der Aufwärtsbewegung zu fassen zu bekommen, doch er schob sie mit aller Kraft nach vorn, angespornt von Maxis wilden Rufen. Bald war Maxi so hoch, dass sich die Kette der Schaukel beinahe auf Höhe der haltgebenden Stange befand. Jan reichte nicht mehr hin und machte in weiser Voraussicht einen Schritt zur Seite. Bei der nächsten Aufwärtsbewegung war der Anschub zu groß, Maxi, der Jan schon zurufen wollte, dass er wieder an seinen Platz gehen soll, kam ins Straucheln und wurde unsanft zurückgeworfen. Nicht, dass ihm das etwas gemacht hätte. Im Gegenteil, stolz verkündete er: „Jetzt spielen wir hauen!“
„Nein“, schrie Cem, doch da war es schon zu spät. Maxi hatte die Schaukel mit einer Drehung seines Körpers so aus der Bahn gebracht, dass sie in Richtung Cem ausgebrochen war und er ihm einen Klaps auf den Rücken verpassen konnte. Einen lauten Klaps, der über den ganzen Spielplatz hallte. „Au!“, brüllte Cem verärgert, gefolgt von dem triumphierenden Freudenschrei seines Kumpels. Jan stand daneben und begann zu kichern. Jetzt streckte auch Cem die Hand aus, verfehlte Maxi allerdings um wenige Zentimeter, weil der seinen schlanken Körper geschickt nach rechts wegduckte. Er war der unangefochtene Champion in diesem Spiel, was wahrscheinlich daran lag, dass er es erfunden hatte und es jedes Mal aus dem Nichts heraus einleitete, sodass seine Gegner keine Chance hatten, sich zu wehren.

In Cems Gesicht zeichnete sich ein rachsüchtiges Schmunzeln ab. Geschickt sprang er von der Schaukel, machte auf der Stelle kehrt und packte Maxis Schaukel an der Kette, noch bevor dieser realisieren konnte, wie ihm geschah. Die Schaukel kam heftig ins Straucheln, stieß gegen den Pfosten und warf Maxi unsanft der Länge nach auf den Boden. Mit einem dumpfen Knall landetet er auf der rauen Gummimatte. Jeder andere hätte einen Moment gebraucht, um sich zu sammeln. Nicht aber Maxi, er richtige sich in Sekundenschnelle auf und preschte auf Cem los. Die Wucht reichte aus, um ihn zu Boden zu bringen, wo die beiden sich durch das Gras rollten und sich wüste Ausdrücke an den Kopf warfen. Jan stand völlig perplex daneben und wusste nicht, ob er lachen oder einschreiten sollte. Schließlich entschied er sich zur Intervention, stürmte auf den Menschenknäuel zu und zog an Cems Schultern, der aufgrund seiner Größe längst die Oberhand gewonnen hatte und auf Maxi hockte.
„Geh runter!“, brüllte Maxi.
„Nein! Lass mich los, Jan!“, schimpfte Cem.
„Hört auf!“, versuchte Jan zu schlichten. 

Schließlich schaffte es Jan, Cem aus dem Gleichgewicht zu bringen und stürzte rücklings mit ihm zu Boden. Maxi, der jetzt frei war, nutzte die Chance und sprang sogleich auf Cem, ohne Rücksicht auf Jan zu nehmen, der unter ihm lag. Die drei bildeten einen Haufen aus um sich schlagenden Armen und Beinen, die man als Außenstehender nur schwer voneinander hätte unterscheiden können. Dazwischen waren immer wieder fiese Beleidigungen zu hören, wenn es einer von ihnen schaffte, die Hand des anderen aus dem Mund zu bekommen oder den Kopf für einen Moment aus dem Gras zu heben. So eingenommen von ihrer Rauferei, merkten sie gar nicht, dass jemand anderes den Spielplatz betreten hatte. Erst das Quietschen der Schaukelketten ließ sie für einen Moment innehalten und nachsehen, wer es wagte, da, so unbehelligt von ihrem Streit, die Schaukeln in Anspruch zu nehmen.

Als sie realisierten wer es war, ließen sie schnell voneinander ab und flüchteten reflexartig hinter die Rutsche. Aus sicherer Entfernung bestätige sich ihr erster Eindruck. Der Streit war auf einmal wie weggefegt, ihr Zorn von einem anderen Gefühl ersetzt: Bewunderung. Denn es war nicht irgendwer, der da auf der Schaukel saß. Nein, es war die schöne Lena, in die alle Jungs in der Klasse verliebt waren. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie ihre blonden Haare, die von der Bewegung der Schaukel in alle Richtungen geworfen wurden. Dieselben Haare, die sie jeden Tag in der Schule aus den hinteren Reihen anhimmelten. Dieser Moment wäre so perfekt gewesen, wenn da nicht ein gewisser Störfaktor ihre Sicht getrübt hätte. Ein anderes, braunhaariges Mädchen saß auf der ihnen näher gelegenen Schaukel und verdeckte, wenn beide in der Mitte kurz auf gleicher Höhe waren, für einen Moment den Blick auf Lena.
„Ist das Minifurz?“, flüsterte Maxi mit etwas Abscheu in seiner Stimme.
„Ja!“, stimmte ihm Cem zu.
„Jaaa!“, pflichtete ihnen Jan bei.

Minifurz, die eigentlich Aileen hieß, hatte sich diesen wenig ruhmvollen Namen verdient, weil sie einmal im Unterricht, als es ganz still gewesen ist, ein quietschendes, zischendes Geräusch von sich gegeben hatte, woraufhin sie auf der Stelle von Timo umgetauft worden war. Aileen war ein schüchternes Mädchen, das sich im wahrsten Sinne des Wortes im Schatten von Lena bewegte und sich nur mitteilte, indem sie eben jener etwas ins Ohr flüsterte, das durch deren Mund dann an die Öffentlichkeit weitergegeben wurde. Sie mochte als schön gegolten haben, hätte sie der Spitzname und die biedere Art, in der sie ihre Mutter anzog, nicht so abstoßend gemacht. Mit ihren Zöpflein und der kleinen grünen Brille sah sie aus wie eine akkurat hergerichtete Sammlerpuppe, die gerade in einem verstaubten Ausstellungsschrank eines gruseligen Sammlers zum Leben erwacht war.

Die Jungs waren sich unsicher, ob die Bewunderung für Lena oder die Abscheu gegenüber Minifurz überwog. Wäre sie alleine gewesen, hätten sie sie sofort vom Spielplatz verjagt, aber so war sie der einzige Grund für Lena hier zu sein. Sonst spielten die Mädchen nie hier, es war das erste Mal, dass die Jungs sie dort angetroffen haben. Von daher mussten sie das Übel in Kauf nehmen. Sie steckten die Köpfe zusammen und schmiedeten einen Plan, wie sie sich ihnen nähern könnten. Jan schlug vor, etwas zu trinken zu holen, um es ihnen anzubieten. Doch Cem warf berechtigterweise ein, dass sie bis dahin längst hätten verschwunden sein können. Maxi kam auf die Idee, die Mädchen anzuschieben, so, wie Jan vorhin sie angeschoben hatte. Das schien allen eine vernünftige Idee zu sein. Vorsichtig gingen sie in Richtung Schaukel, völlig unbeachtet von den Mädchen. Als sie schließlich direkt davor standen, sagten sie fast im Chor: „Hallo!“

Minifurz beäugte sie kritisch, erwiderte ihre Begrüßung allerdings nicht. Lena, deren Sommersprossen an jenem Tag besonders schön aussahen, grüßte etwas verhalten zurück. Die Konversation kam ins Stocken. Die Jungs traten verlegen das Gras platt und die Mädchen schaukelten scheinbar ungestört weiter. Da sagte Maxi endlich: „Wenn ihr noch ein bisschen höher schaukelt, könnt ihr über die Hecke von dem Garten da kucken.“

Die Jungs waren stolz auf ihren Kumpel für diesen grandiosen Vorwand, die Mädchen anzuschieben. Doch sie hatten die Rechnung ohne Minifurz gemacht. Im Vorbeischaukeln flüsterte sie ihrer Freundin etwas zu, das diese sogleich an die Jungs weiterleitete: „Und was ist da?“
„Ähh“, stutze Maxi, der auf diese Frage nicht vorbereitet gewesen war.
„Ein…“, begann Cem einen Satz, den er angesichts Lenas neugierigem Blick nicht vollenden konnte.
„Der hässlichste Hund der Welt!“, kam ihnen Jan zur Hilfe, der überrascht von seinen Kumpels angestarrt wurde.
„Ja!“, pflichtete ihm Cem bei.
„Der ist so hässlich, dass ich kotzen musste!“, spann Maxi die Lüge weiter. „Der sieht ungefähr so aus“, ergänzte er und schnitt eine hässliche Grimasse.
„Genau“, verkündete Jan und schnitt ebenfalls eine Grimasse. Cem macht ein schiefes Gesicht und streckte die Zunge raus.
„Der sieht aus wie Frau Eberle“, krönte Maxi das Ganze.

Jetzt wurden die Mädchen aufmerksam. Lena begann ein bisschen zu kichern. Minifurz schwieg, deutete durch ihren Blick aber Interesse an.
„Wenn wir euch anschieben, könnt ihr drüber kucken“, sagte Jan.
„Na gut. Ich will den hässlichen Hund sehen“, gab Lena schließlich nach. Minifurz nickte ebenfalls, woraufhin sich Jan und Cem hinter die Schaukeln begaben. Da Jan näher bei Lena gestanden hatte, durfte er sie anschieben, was ihm Cem mit einem abfälligen Blick zu vermiesen versuchte. Maxi blieb vor der Schaukel stehen und zog Grimassen, während die beiden begannen, die Schaukeln anzuschieben. Als die Mädchen immer höher getragen wurden, drohte ihr Schwindel aufzufallen. Cem warf Maxi einen bedeutenden Blick zu. Der verstand und begann Witze zu erzählen. „Was passiert, wenn ein Cowboy zum Friseur geht?“, kramte er einen alten Witz aus der Tiefe seines Bewusstseins hervor. Offenbar schienen die Mädchen ihn noch nicht zu kennen.
„Was denn?“, fragte Lena neugierig.
„Er verliert sein Pony“, erwiderte Maxi und prustete los.
„Haha, gar nicht witzig!“, verspottete ihn Lena, doch Minifurz musste schmunzeln.
„Minifurz findet’s witzig!“, warf Maxi ein und sofort schlug die Stimmung um.

Er fing sich einen hasserfüllten Blick von ihr ein und Lena kam ihrer Freundin zur Hilfe, indem sie sagte: „Sie heißt Aileen. Nenn sie nicht Minifurz, du Doofi.“
Die Jungs hinter der Schaukel wussten, dass ihr Tagtraum sich nun jeden Moment auflösen würde. Als hätte Maxi ihre Gedanken gelesen, beleidigte er Lena als blöde Kuh. Ihr kleines Gesicht faltete sich zu einem einzigen Ausdruck des Vorwurfs und der Abscheu zusammen. „Stopp!“, rief sie. Cem und Jan hörten auf, die beiden anzuschieben. 

„Da ist gar kein hässlicher Hund hinter der Hecke. Oder doch…du bist der hässliche Hund!“, rächte sie sich für die Beleidigung an Maxi. Das „Trrrrrr“ von vier kleinen Füßchen, die über die Gummimatten rieben, um zu bremsen, erfüllte für einen Moment die Stille, in der sich beide Parteien weitere, schlimme Beleidigungen ausdachten.
„Dumme Mädchen!“, schimpfte Maxi.
„Blöde Jungs!“, erwiderte Lena.
Es folgten weitere Beleidigungen, die irgendwann nur noch durch unmotivierte „Selber!“ Abgeschmettert wurden. Schließlich wurde es den beiden Mädchen zu blöd und sie zogen mit der Androhung, die Jungs zu verpetzen, von dannen. Diese starrten ihnen ungläubig hinterher, und überlegten, bei welcher Instanz sie hätten verpetzt werden können. Nachdem sie nur auf ihre Eltern oder die von Lena gekommen waren, machten sie sich schnell aus dem Staub. Sie flüchteten durch die Habspergstraße, überquerten die Weikersthalstraße und rannten dort in den Wald, um runter zum Eselsweg zu gelangen. Dort hockten sie sich auf die Bank, die den Abhang überblickte und schwiegen eine Weile.
„Was machen wir jetzt?“, warf Cem in die Runde, als er die Stille nicht mehr aushielt.
„Ich kenne einen Teich, wo wir die Goldfische füttern können. Einer hat mal einen Stein gefressen“, erinnerte sich Maxi.
„Cool! Wir können beim Bäcker ein Brötchen holen“, sagte Jan.
„Und was zu trinken.“
„Glaubt ihr, die verpetzen uns wirklich?“
„Nö.“
„Und wenn schon.“
„Gehen wir.“

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Von Lukas Böhl

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