Der Mond und die Sehnsucht

Stille, schwarze Nacht. Er steht auf einer Brücke weit außerhalb der Stadt und starrt auf den Fluss hinab, der unter ihm gen Süden fließt."

Über ihm ein sichelförmiger Mond. Das Wasser spiegelt das himmlische Lächeln. Er kommt ins Grübeln.

Der Mond ist ihm ganz ähnlich, weil er den Menschen nie sein ganzes Wesen zeigt. Selbst bei Vollmond sehen die Erdbewohner nur eine seiner Seiten.

Ganz so verhält es sich mit dem Herz, das in seiner Brust schlägt. Es sehnt sich so sehr nach einer Familie, doch will gleichzeitig die Freiheit seines Junggesellenlebens nicht aufgeben.

Und jetzt ist er zu alt, um diese Entscheidung weiter in die Zukunft zu schieben. Wo ist das Leben hin und wo die Jahre?

Er hebt einen Stein auf und wirft ihn ins Wasser. Das Spiegelbild des Mondes zerbricht für einen Augenblick, macht für den Moment den Anschein, als wolle es mit dem Fluss davonschwimmen.

Doch einige Sekunden später ist es wieder zu erkennen. Der Stein, der den Aufruhr verursacht hat, liegt schon am Grund. Wahrscheinlich wird er bald davongespült.

Nun ruht sein Blick wieder auf dem Halbmond im Wasser. Doch was ist das? Plötzlich hört er eine Stimme. Hektisch dreht er sich nach allen Seiten um, um zu sehen, woher sie kommt. Niemand da!

Und ihm wird klar, wer da wirklich spricht. Im Wasser bewegt sich das sichelförmige Spiegelbild des Mondes wie ein Mund, formt Worte und spricht zu ihm. Er muss sich fangen, um zu verstehen, was der Mond von ihm möchte.

„Ich kann dir bei deinen Leiden helfen, junger Kerl.“

„Was geht hier vor sich? Ich muss träumen! Oder verrückt sein?“

„Hör gut zu. Ich habe nicht viel Zeit. Schon bald wird es hell werden. Ich erkenne, was dich plagt. Und ich möchte dir helfen.“

„Aber wie?“

„Indem ich dir deinen Schmerz abnehme. Sodass das Verlangen nach dem Einen dem Anderen nicht mehr im Wege steht. Doch dafür musst du willens sein, mir einen Teil von dir zu geben.“

„Du meinst, du hilfst mir dabei, eine Entscheidung zu treffen?“

„So ist es, Junge! Du kannst hier und jetzt darüber entscheiden, wie du in Zukunft zu leben gedenkst.“

„Und wie soll das funktionieren?“

„Es sind da zwei Seelen, die deinem Herzen innewohnen. Der einen musst du dich entledigen.“

„Doch woher weiß ich, wer ich sein will?“

„Diese Entscheidung musst du in meine Hände legen.“

„Was, wenn du die falsche Entscheidung triffst?“

„Ein Zurück wird es nicht geben.“

„Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin.“

„Die Zeit wartet nicht. Dein Dasein ist begrenzt.“

„Angenommen, ich stimme zu, wie soll das funktionieren?“

„Es geschieht, wie es geschehen soll. Doch zuerst brauche ich dein Einverständnis.“

„Mond, was du von mir verlangst, ist unmenschlich!“

„Es ist kein Mensch, der hier mit dir spricht. Ich beobachte euer Geschlecht schon seit Jahrtausenden. Die Fähigkeit, rational zu entscheiden, ist keine eurer Stärken.“

„Du musst es also wissen.“

„Ich weiß, was ich weiß. Sehe, was ich sehe. Du bist nicht der Erste und nicht der Letzte.“

„Also gut. Dann hilf mir, eine Entscheidung zu treffen.“

„Nun denn. Fasse nun an dein Herz und siehe, was geschehen wird.“

Er legt die rechte Hand an sein Herz. Mit einem Mal fühlt er, wie daraus etwas herausfließt. Durch seinen Brustkorb in seine Hand, wo es sich zu einem Klumpen verfestigt.

Es fühlt sich an wie der Stein, den er vorhin ins Wasser geworfen hat. Aber er kann es nicht mit den Augen sehen. Es ist von so tiefem Schwarz, dass es all das Licht aufsaugt und nichts reflektiert.

„Wirf es ins Wasser, bevor es zurück in deine Brust springt.“

Noch einmal wirft er einen Blick auf diesen Teil seines Selbst, den er sich eben aus der Brust gezogen hat. Dann holt er zum Wurf aus und schleudert den Seelenstein ins Wasser.

Wieder trifft er das Abbild des Mondes. Erneut löst dessen Spiegelbild sich auf. Nur dieses Mal kehrt es nicht zurück. Der Mond hängt noch am Nachthimmel, aber das Spiegelbild zeigt sich nicht mehr auf dem Wasser.

Mit ihm ist auch die Stimme verschwunden. Und etwas anderes. Er kann es spüren. Ihm ist leichter zu Mute. Ein Gefühl des Angekommenseins macht sich in ihm breit.

Endlich kann er nach Hause gehen.


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Lukas

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Von Lukas Böhl

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