Der Gitarrenverkäufer

Vor etwa 20 Jahren saß Roland Winkler, den alle nur Rolli nannten, in seinem Gitarrenladen im Westteil von Stuttgart und blätterte durch die Tageszeitung von gestern, die ihm der Bäcker von gegenüber an jenem Morgen beim Kaffeeholen geschenkt hatte. Das kleine Geschäft warf gerade genug ab, um davon leben zu können. Die teuren Gitarren hingen ganz hinten, wenn er eine von denen verkaufte, konnte er einige Monate guten Gewissens ins Bett gehen. Wenn er aber wieder nur eine von den Anfängergitarren an ein verunsichertes Elternpaar verkaufte, das sich nach stundenlangem Beratungsgespräch für das günstigste Gesamtpaket entschied, weil ihr Kind bald anderen Interessen nachlaufen würde, machte er sich Gedanken um seine Zukunft. 

Ein bisschen Umsatz kam mit den tourenden Bands aus England und Frankreich, die im Jugendhaus unten an der Straße Konzerte spielten und auf den großen Durchbruch hofften. Bei deren Spielstil verschlissen die Saiten viel schneller, als sie sie nachkaufen konnten. Leider klauten diese Typen wie die Raben, weil sie kaum oder gar keine Gage bekamen. Meist fiel es Rolli erst auf, wenn sie schon wieder weitergezogen waren, in irgendeine Stadt in der Schweiz oder Tschechien. Tobi, der Kulturmanager vom Jugendhaus, wollte davon nichts wissen. Er vertraute allen Leuten blind. Manchmal kam er auf ein Schwätzchen vorbei, probierte ein, zwei Gitarren oder wühlte in aller Ruhe in der Plektrumkiste, ohne jemals etwas zu kaufen. 

Wie die meisten eben, sie kamen rein, guckten sich ein Weilchen um, betatschten die Gitarren und schlichen sich dann möglichst unauffällig wieder an ihm vorbei nach draußen. Mit den Jahren hatte Rolli ein Gefühl dafür entwickelt, wer ein Käufer und wer ein Schauer war. Nur weil einer im Porsche direkt vor dem Laden parkte, hieß das nicht, dass endlich Zahltag war. Gerade die waren oftmals die schlimmsten Pfennigfuchser und liefen am Ende des Tages doch zum Discounter. Bei solchen Leuten schaute er nicht mal von seiner Zeitung auf, er nickte ihnen höchstens beiläufig zu. 

An jenem Tag war nicht viel los, nur ein paar Schauer hielten sich im Laden auf und schielten beschämt zur Seite jedes Mal, wenn Rolli ihnen einen prüfenden Blick zuwarf. Wer in Ruhe Gitarren testen wollte, der musste ernsthaftes Interesse mitbringen. Nicht Geld, nicht Können, nicht unnützes Fachwissen, sondern einfach nur Freude am Hobby und der Kunst des Gitarrenspielens. Der Laden füllte und leerte sich. Die Leute kamen in Schwärmen oder gar nicht. Gegen 14 Uhr, kurz nachdem Rolli den Laden nach der Mittagspause wieder aufgeschlossen hatte, klingelte das Glockenspiel an der Eingangstür. Am wischenden Geräusch, das die Tür beim Öffnen machte, erkannte er, dass es ein Schauer war. Es war die Art, wie sie die Tür vorsichtig aufschoben, als müssten sie sich erst die Erlaubnis holen, einzutreten. Als wären sie gar nicht sicher, ob sie hinein dürften. 

Allein wegen dieser Kunden hatte Rolli oft mit dem Gedanken gespielt, draußen ein Schild anzubringen mit der Aufschrift: „Nur zahlungsfreudige Kundschaft.“ Allerdings wäre das zu zynisch für die richtigen Kunden gewesen, hatte er beschlossen. Rolli, der hinter seiner Zeitung versteckt saß, hielt es nicht für nötig, diese zu senken, um nachzusehen, wer eingetreten war. Er hörte, wie sich die Person unsicher zwei Schritte vorbewegte, vermutlich auf Höhe der Theke stehenblieb, eine Reaktion abwartete, um dann, nach kurzem Zögern, den Weg ins Innere des Ladens fortzusetzen. Wie um seiner Missgunst Ausdruck zu verleihen, räusperte sich Rolli besonders laut, hustete zweimal, nahm einen Schluck seines längst erkalteten Kaffees, stellte die Tasse mit einem lauten Knall auf die Glastheke und zerrte an den Zeitungsseiten. Botschaft angekommen, dachte er, bevor er sich weiter in seine Lektüre vertiefte. Wer auch immer da im Laden war, hatte wenigstens den Anstand, sich ruhig umzusehen. Manche bestanden regelrecht darauf, wahrgenommen zu werden. Sie liefen aus Versehen gegen die Verstärker oder schnippten mit den Fingern auf die Korpusse der Akustikgitarren. Der hier war angenehm, keinen Mucks gab er von sich. 

So still war es, dass Rolli sich irgendwann im Glauben befand, er sei alleine im Laden. Da schreckte er plötzlich hoch, als aus dem hinteren Teil des Verkaufsraums einige Akkorde erklangen. Mit einem kräftigen Stoß knallte er die Zeitung auf den Tisch und sah sich verdutzt um. Hinten saß ein Bursche von vielleicht 18 oder 19 Jahren mit einer elektrischen Gitarre auf dem Schoss, der ihn genauso entgeistert ansah. Rolli fiel aus allen Wolken, er hatte sich für eines der teuersten Modelle in seinem Sortiment entschieden. Wutentbrannt erhob er sich von seinem Lederstuhl, dessen Polsterung sich sogleich mit Luft vollsog, als wäre sie froh, endlich von seinem Gewicht erlöst worden zu sein. 

„Junge“, brüllte er durch den Laden, so laut, dass seine Stimme im Hohlraum der vielen Gitarren nachklang, „die kannst du dir eh nicht leisten!“ Der Junge schob sich das zottelige Haar aus dem Gesicht und sah ihn verängstigt an, von seinem ernsten Blick an Ort und Stelle fixiert. Rolli hastete auf ihn zu, schnappte nach der Gitarre und entriss sie seinen unwürdigen Händen mit den schwarzlackierten Fingernägeln. Prüfend drehte er sie hin und her, um nach möglichen Schäden Ausschau zu halten. Als er nichts fand, wandte er sich wieder dem Bengel zu.

„Die kostet so viel wie zehn von denen!“, sagte er und deutete auf irgendeine herkömmliche E-Gitarre an der Wand.

Dann legte er nach: „So eine Gitarre nimmt man nicht einfach von der Wand. Ich sitze da vorne nicht umsonst. Das nächste Mal fragst du mich. Nein, es gibt kein nächstes Mal, oder willst du was kaufen?“

„Ich…“, stammelte der Junge von all seinem Mut verlassen.

„Dacht ich’s mir doch. Keinen Pfennig in der Tasche, aber die teuerste Gitarre betatschen. Jetzt schau zu, dass du hier rauskommst!“

Für einen Moment blieb der Junge sitzen, vielleicht um sicherzugehen, dass es Rolli ernst war. Mit einem bedrohlichen Blick suggerierte der ihm, dass er sich besser aus dem Staub machte. Da ergriff der Junge die Flucht und war so flugs aus dem Laden verschwunden, dass Rolli sich nicht mal sein Gesicht hatte einprägen können. Er rümpfte empört die Nase, rieb mit einem Taschentuch, das immer in seiner linken Hosentasche steckte, die Fingerabdrücke von der Gitarre und hängte sie sorgsam zurück zwischen die anderen Prachtstücke. Dann schaltete er den Testverstärker aus, zog das Kabel raus, rollte es ein, legte es auf den Stuhl und kehrte zurück auf seinen Posten. In Gedanken schimpfte er über die Dreistigkeit des Jungen. Nicht der schlimmste Kunde, den er je hatte, aber in die Top 10 schaffte er es mit Sicherheit. Die Jugend wurde immer respektloser, beschloss er und wollte sich schon wieder seiner Zeitung widmen, als ihm dieses seltsam vertraute, aber gleichzeitig fremdartige Riff durch den Kopf ging. Mit dem Kopf nickte er mit, ließ sogar die Zeitung fallen, um mit den Händen auf der Luftgitarre nach den richtigen Akkorden zu suchen. Eigentlich konnte er jeden bekannten Rocksong der letzten 40 Jahren zumindest ansatzweise nachspielen, aber dieses Riff wollte sich ihm partout nicht eröffnen. 

Er ließ von der Luftgitarre ab und schnippte ein paar Mal mit der rechten Hand, um des Rätsels Lösung aus seinem Unterbewusstsein zu beschwören. Auch dieser Versuch blieb erfolglos. Frustriert ging er im Laden auf und ab, um die Gitarren zu fragen. Er tippte einige an, probierte verschiedene Akkordfolgen, nur um dann zu seinem kleinen CD-Regal zu laufen, um sich die Namen der Interpreten durchzulesen. Bei jedem Bandnamen zählte er die Gitarristen als Erinnerungsstütze auf. War er verrückt geworden? Keiner dieser grandiosen Virtuosen hatte das Riff gespielt, daran hätte er sich erinnert. Desto länger er er nachdachte, desto weiter schwand die Erinnerung an diese verdammte Akkordfolge. 

Den restlichen Tag versuchte er sie sich immer wieder in den Kopf zu rufen, pfiff die Teile, an die er sich erinnern konnte vor sich hin und setzte sie mehr schlecht als recht zu einem Riff zusammen. Am Abend schloss er den Laden ab und entschied sich spontan dazu, in der Kneipe seine Kumpels Eddy vorbeizuschauen. Der war ein noch größerer Musikfanatiker als er selbst und würde ihm mit Sicherheit helfen können, das Riff zu betiteln. Dort angekommen, ließ er keine Zeit verstreichen und pfiff ihm die letzten Fetzen dessen vor, was er aus seiner Erinnerung rekonstruieren konnte. „Hast du getrunken?“, fragte ihn Eddy und zeigte ihm einen Vogel. Ernüchtert setzte er sich an die Theke, bestellte ein Bier und hörte der Musik zu. Es lief Led Zeppelin. „Die waren’s auch nicht“, stellte er fest und nahm einen Schluck. 

Am nächsten Morgen war ihm die Melodie fast gänzlich entglitten und im Laufe der nächsten Tage tat er sie als bloßes Hirngespenst ab, die ersten Zeichen des fortschreitenden Alters. Schließlich war Rolli mit seinen 46 Jahren nicht mehr der Jüngste. Das Geschäft ging derweil schleppend, zwar spielten die Leute im Sommer viel mehr Gitarre in den Parks und bei ihren Grillfesten, doch spielten sie auf alten, abgegriffenen Akustikmodellen, die sie auf ihren Dachböden oder dem Flohmarkt gefunden hatten. Eine neue kaufen wollte keiner. Tüchtig wie er war, nutzte Rolli den Leerlauf, um sich über die Möglichkeiten des Internets zu informieren. Er spielte seit längerer Zeit mit dem Gedanken, sich eine Website zuzulegen. Allerdings glaubte er, das Internet würde sich in seinem Segment nicht durchsetzen können. Wer ein paar hundert Euro für eine Gitarre ausgibt, der will ordentlich beraten werden, von einem Menschen, von Angesicht zu Angesicht. Nicht über einen drittklassigen Werbetext im Internet. 

Da er gerade ohnehin nicht flüssig war, warf er diese Idee bald über den Haufen und stellte stattdessen ein Schild vor den Laden, auf dem er seinen Reparaturservice für Gitarren anpries. Die meisten Kunden, die durch dieses Schild in den Laden gelockt wurden, wollten eine gerissene Saite oder gleich das komplette Set ersetzt haben. Zunächst reagierte er etwas schroff auf dieses Anliegen, da er meinte, wer eine Gitarre besaß müsse das selbst können, doch als er merkte, dass er eine Nische entdeckt hatte, schrieb er es explizit auf seine Werbetafel. So gelang es ihm wieder einmal die Sommermonate zu überbrücken. Mit dem Herbst stieg der Umsatz, die Schule begann wieder und die Kinder brauchten neue Hobbys, die langen Tage wurden kälter und das Alltagsleben verlagerte sich erneut nach drinnen. 

Es lief so gut, dass er sich eine Aushilfe anstellen konnte. Zunächst nur für einen Tag, den Samstag. Er fand einen jungen Musikstudenten, der einiges auf dem Kasten zu haben schien. Ein dürrer Kerl mit langer, brauner Mähne, den er Eisi nannte, weil er aus Eislingen kam. An einem seiner freien Samstage schlenderte Rolli durch die Stadt und wurde aus einer unbestimmten Laune heraus in Richtung seines Ladens getrieben. Als er dort aufschlug, war gerade nichts los. Eisi saß über einen Kassettenrekorder gelehnt an der Theke und nickte rhythmisch mit dem Kopf. Neben ihm stand eine 1,5-Liter-Flasche Spezi, welches zu trinken ihm Rolli mehrfach verboten hatte. Klebrige Getränke hatten in seinem Laden nichts verloren, ebensowenig wie Eis oder Döner. 

Beim Eintreten bemerkte ihn Eisi und versuchte im letzten Moment die Flasche verschwinden zu lassen, doch Rollis Blick verriet ihm, dass es zu spät war. Schon wollte dieser zu einer gehörigen Standpauke ausholen, als die Musik, die aus dem Kassettenrekorder dröhnte, ihn innehalten ließ. „Das ist es!“, schrie Rolli mit einem Mal, so laut, dass Eisi beinahe von seinem Schemel gekippt wäre. „Eisi, wie heißt die Band?“, drängte er und packte diesen an den Schultern. Eisi war völlig perplex und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass der alte Mann ihn nicht wegen der Speziflasche umbringen wollte.

„Das ist keine Band“, antwortete er endlich, wortkarg, wie er war.

„Wer dann?“, wollte Rolli wissen.

„Ein Kunde.“

„Ein Kunde? Eisi, reiß die Kiemen auf! Muss man dir alles aus der Nase ziehen?“

„Ja, Chef, da war vorhin son Kerl, also son Junge und der hat hier gespielt, als wäre er der nächste Hendrix oder so. Da hab ich meinen Kassettenrekorder geholt und es aufgenommen.“

„Ich kenne diesen Song, ich hab ihn schon mal gehört. Wie sah der aus, der Kunde?“

„Ich weiß nicht, hatte ne Mütze auf, falsch herum, lange Haare, zerrissene Jeans. So wie die Jungs, die am Skatepark abhängen und Nirvana hören.“

Rolli dachte nach, so einen kannte er nicht. Aber den Song, dieses Riff, das hatte er vor einigen Monaten im Kopf gehabt. Damals hatte ihn Eddy für verrückt gehalten, aber jetzt würde er es ihm vorspielen können, um zu beweisen, dass er es sich nicht eingebildet hatte. Vielleicht, dachte er, war das gar kein Klassiker, sondern was Modernes. Das Zeug, das die Jungs am Skatepark beim Jugendhaus hörten, von denen Eisi eben gesprochen hatte. Andererseits traute er denen weder so einen guten Geschmack, noch so ein Talent zu, geschweige denn ihren Idolen. Das waren alles Möchtegerns und Poser. Nichtsdestotrotz beschlagnahmte er den Kassettenrekorder mitsamt der Aufnahme als Strafe für das Spezitrinken. Eisi wollte ihn noch besänftigen, doch da war er schon aus der Tür gelaufen. Er würde den Rekorder ja nicht für immer behalten, er hasste die Tonqualität von Kassetten und das ganze Drumherum mit dem Vor- und Zurückspulen. 

Rolli lief in Richtung Kneiple mit dem Plan, Eddys Musikwissen zu testen. Wenn er den Song nicht kannte, dachte Rolli, war er doch kein so großes Genie, wie er immer behauptete. Im Kneiple war um diese Uhrzeit noch nicht viel los. Ein Betrunkener, der aussah, als hätte er kein Zuhause, spielte mit einem Bier in der Hand Darts gegen sich selbst und verlor. Rolli nickte ihm zu und steuerte auf die Theke zu, hinter der Eddy gerade damit beschäftigt war, eine Zeitung zu durchblättern. Im Aschenbecher neben der Zeitung hing eine glimmende Zigarette, deren Rauch sich geheimnisvoll unter der Thekenbeleuchtung verfing. 

„Na, Großer?“, begrüßte ihn Eddy, ohne dabei aufzusehen.

„Grüß dich! Pass auf, Eddy, willst du ne Wette abschließen?“, erwiderte Rolli.

Den Kopf immer noch gesenkt, blickte ihn Eddy misstrauisch über seine Lesebrille hinweg an. Ein Zucken mit der rechten Augenbraue verlangte nach mehr Informationen. 

„Ganz einfaches Ding. Ich spiel dir was vor und du musst mir sagen, wer das gespielt hat.“

Jetzt wurde Eddy hellhörig, ließ von der Zeitung ab und sah seinem Kumpel direkt in die Augen. Selbstsicher nickte er mit dem Kopf und blies verächtlich Luft durch die dünnen Lippen. 

„Nichts leichter als das. Dein Einsatz?“

„’N Zwanni!“

„Steig ich ein! Dann lass mal hören.“

Rolli legte den batteriebetriebenen Kassettenrekorder auf den Tisch, spulte unter den gespannten Blicken Eddys die Kassette zurück, sah bedeutungsvoll zu ihm hoch und drückte auf Play. Die Aufnahme war nicht sehr gut, Eddy rückte näher ran, um besser hören zu können. Mit seiner rechten Hand fuhr er sich durch den Schnauzer und über die Nase. 

„Das ist alles?“, fragte er erstaunt.

„Ja, mehr hab ich nicht. Erkennst du den Song, oder nicht?“

„Lass es mich nochmal hören.“

„Ha!“, lachte Rolli auf und sah sich schon um einen Zwanziger reicher. Dennoch spulte er zurück und ließ die Aufnahme nochmal laufen. Nicht zuletzt, weil er die Ahnungslosigkeit seines Kumpels auskosten wollte. Der lehnte mit verschränkten Armen vor dem kleinen Kassettenrekorder und lauschte mit gespanntem Gesicht der mysteriösen Aufnahme. Als sie vorbei war, atmete er tief ein. Für einen Moment war es ruhig, ein Dartpfeil prallte an der Scheibe ab und fiel zu Boden.

„Tja“, begann Eddy, „da hast du mir schön was vorgemacht. Ich hab keine Ahnung…“

„HA, HA! Gewonnen! Bist wohl doch kein son großer Musikkenner, was?“, spöttelte Rolli.

„Pff, das war doch ne Falle von dir. Ist bestimmt irgend so ne neue Band, die keiner kennt“, sagte Eddy und zog einen Zwanziger aus seinem Geldbeutel, den er mit Nachdruck auf die Theke knallte. Zufrieden steckte ihn Rolli ein und beschloss, an diesem Abend gut essen zu gehen. Dann wurde er wieder ernster und wandte sich an Eddy: „Aber mal ehrlich, das macht mich wahnsinnig. Vor ’n paar Monaten hab ich dir von diesem Riff erzählt, da hast du mich für verrückt erklärt. Und jetzt bist du genauso ahnungslos.“

„Tja, so ist das manchmal. Woher hast’n die Aufnahme?“

„Die hat mein Hiwi heute im Laden aufgenommen. Da kam so ein Bengel rein und hat aus dem Nichts diesen Song runtergespielt. Wahnsinn, oder?“

„Talent hat er, der Junge. Vielleicht werden wir einfach alt und das ist eine von den Bands, die da auf MTV läuft.“

„Ach hör mir auf mit dem Quatsch, du! Gib mal lieber ’n Bier jetzt.“

„Willst mir mein Geld wieder zurückgeben, he?“

„Ts, na klar.“

Rolli blieb nicht nur für ein Bier, am Ende waren es fünf und ein Kaffee. Das geplante Abendessen war in kürzester Zeit von einem Drei-Gänge-Menü zu einem Döner mit Cola zusammengeschrumpft. Leicht angetrunken kehrte er in den Laden zurück, wo Eisi gerade ein paar Gitarren abstaubte.

„Kam er wieder?“, rief er ihm zu.

„Wer?“

„Der Wunderjunge.“

„Ne, Chef. Kann ich meinen Rekorder wieder haben?“

„Nimm schon, und jetzt geh nach Hause.“

„Aber…“

„Nichts aber, ich mach das heut voll. Du kriegst dein Geld.“

„Alles klar.“

Daraufhin packte Eisi seine Sachen, schnappte sich den Rekorder, der auf der Theke gelegen hatte und verschwand mit einem „Schönen Abend!“ in die anbrechende Dunkelheit. Alleine blieb Rolli im Laden zurück und ließ sich in den Gitarrenteststuhl fallen, von wo aus er den Blick über sein kleines Reich schweifen ließ. Alles war wie immer, er verstand jetzt gar nicht mehr, wieso ihn dieses Riff den ganzen Tag so beschäftigt hatte. Und so lehnte er sich zurück und döste über einen Tagtraum, in dem er auf einer großen Bühne stand und von einer kreischenden Menge bejubelt wurde, ein. 

Einige Wochen nach diesem Ereignis – Rolli hatte es längst wieder vergessen – kam es zu einer merkwürdigen Begegnung im Laden. Es war Montagfrüh, als kurz nach Ladenöffnung die Tür klingelte und ein schwarzhaariger Junge eintrat. Seine Klamotten waren mit Patches und Nieten bestückt, wie die von den Punks im Schlosspark, nur viel hochwertiger. Er trug Vans und hatte ein schmales, androgynes Gesicht. Rolli, der damit beschäftigt war, das Wechselgeld in der Kasse zu zählen, sah auf und traf seinen Blick. Für eine Sekunde entstand eine Pattsituation. In den meisten Fällen hätte er so einen Kunden sofort mit einem Kommentar oder einem fiesen Blick vergrault, doch aus einer unbestimmten Laune heraus nickte er ihm mit einem zuversichtlichen Ausdruck zu. Der Junge lächelte, nickte ebenfalls und ging weiter. 

Rolli folgte ihm mit den Augen, er bewegte sich zielstrebig auf die teuren Gitarren zu. Innerlich tobte Rolli, nur mit großer Anstrengung konnte er den Impuls niederringen, den Jungen zurückzupfeifen. Als hätte der seinen Blick gespürt, drehte er sich verlegen um und suchte nach Bestätigung. Auch dieses Mal ließ ihn Rolli gewähren und widmete sich schnell wieder dem Geldzählen. Der Junge spazierte indes ein wenig durch den Verkaufsraum, kam dabei jedoch immer wieder an einem ganz speziellen Modell vorbei. Rolli kam sich vor wie ein Fallensteller, der darauf harrte, den Hasen endlich in die Falle tappen zu sehen. Er musste sehr mit sich kämpfen, nicht nach hinten zu gehen, um ihm die Gitarre höchstpersönlich in die Hand zu drücken. 

Es dauerte noch einige Minuten, bis der Bursche sich endlich traute, nach dem Objekt der Begierde zu greifen. Dieses Mal drehte er sich nicht mehr um, er ging all-in, wollte den Moment so lange auskosten, wie er nur konnte. Ohne noch einmal aufzusehen, entrollte er ein Kabel, stöpselte es erst in den Verstärker, dann in die Gitarre und schaltete ihn schließlich an. Erst jetzt, als er schon saß, die Hände zum Anschlag bereit, warf er Rolli einen letzten Blick zu. Der schaute schnell woanders hin, weil er ahnte, wie fragil dieser Moment war. 

Auf einmal schlug Rollis Herz schneller, er verspürte eine Art Aufregung, die er sich nicht erklären wollte. Mit dem ersten Ton, der aus der Ecke des Ladens erklang, wusste er jedoch, woher sie rührte. Da war es endlich. Das Riff! Live und in Farbe, direkt vor seinen Augen. Voller Erstaunen machte er einen Schritt auf den Jungen zu, hielt sich aber noch dezent zurück. Er spielte das volle Riff und mehr. Es war ein ganzer Song. Seine Finger bewegten sich über die Saiten, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Rolli war baff, so ein Talent hätte er diesem Jungspund nie zugetraut. Jetzt erinnerte er sich auch wieder an ihre erste Begegnung und wie er ihn aus dem Laden gejagt hatte. Damals hatte er vor lauter Zorn die Melodie ganz überhört, das heißt, nur unterbewusst wahrgenommen. 

Nun bereute er sein schroffes Verhalten, vielleicht hatte er einen guten Kunden vergrault. Dieses Mal würde er ihn nicht davonkommen lassen, dachte er. Der Junge spielte ausgiebig, als würde er eine lange verdrängte Sehnsucht endlich stillen dürfen. Er war völlig eingenommen von der Musik und vergaß kurzerhand seinen Beobachter. Aus dieser Sicherheit heraus wagte sich Rolli ein Stückchen näher heran, was den Burschen zunächst nicht störte. Doch plötzlich sah er auf und erschreckte sich. Sofort verstummte die Gitarre und zwischen Rolli und ihm war nur das leise Surren des Verstärkers zu hören.

„Ich war ganz vorsichtig!“, entschuldigte sich der Junge mit zitteriger Stimme.

„Na, das will ich hoffen“, erwiderte Rolli zynisch, ohne es zu wollen. 

Dies wertete der Junge als Zeichen, den Verstärker abzuschalten, sich zu erheben und die Gitarre zurück an die Wand zu hängen. Rolli beobachtete alles wortlos, er war hin- und hergerissen. So sehr er sich auch gegen seine automatisch eingenommene Abwehrhaltung sträubte, er konnte nicht verhindern, dass der Junge langsam in Richtung Ausgang lief. Kurz bevor er die Tür erreichte, brachte Rolli noch folgende Worte über die Lippen: „Eines Tages…“

Der Junge drehte sich kurz um, nickte verträumt und verschwand. Als er weg war, seufzte Rolli laut auf. Konnte der Junge sich bei so einem Talent nicht eine Gitarre in seiner Preisklasse raussuchen? So war die Jugend von heute, immer nach den Sternen greifen, aber nicht mal einen Baum hochklettern können. Rolli schüttelte verächtlich den Kopf, obwohl er gar nicht richtig zornig war. Er verspürte sogar Reue, den Wunderknaben so behandelt zu haben. Diese versuchte er mit aller Gewalt zu unterdrücken. Den Rest des Tages verbrachte er damit, aus dem Schaufenster auf die Straße zu starren und seinen Kopf von allen aufkommenden Gedanken freizuhalten. 

Die nächsten Wochen sah er den Jungen nicht wieder, auch wenn er oft an sein grandioses Gitarrenspiel dachte. Jeden Samstag beim Kassensturz nach Ladenschluss fragte er Eisi, ob er nicht vorbeigekommen war. Der schüttelte jedes Mal nur den Kopf, was nicht besonders überzeugend wirkte. Eisi war nicht der aufmerksamste Ladenhüter, es hätte ihm also durchaus entgehen können. Wenigstens trank er kein Spezi mehr während der Arbeitszeit. Das Geschäft lief indes ganz gut, ein Kunde zeigte sogar ernsthaftes Interesse an dieser ganz speziellen Gitarre. Aus irgendeinem Grund wollte Rolli sie ihm nicht verkaufen und meinte, sie sei für jemand anderes reserviert. Er verkaufte ihm dann eine andere, weitaus günstigere Gitarre, was ihn einige Nächte lang mit Magenschmerzen ins Bett gehen ließ. 

An einem Mittwochabend ging kurz vor Ladenschluss ein letztes Mal die Tür auf. Rolli, der sich gerade im Lager befand, rief in den Verkaufsraum, dass schon geschlossen sei. Die Person antwortete nicht. Unter geflüsterten Beschimpfungen lief er nach vorn, um nachzusehen, wer ihn so kurz vor Feierabend noch störte. Seine Augen wurden mit einem Mal ganz groß, als er die Person erkannte. „Du!“, begrüßte er den Kunden. Es war der Junge, unverkennbar. Da stand er mit seinen schwarzen Klamotten und der zotteligen Frisur und starrte ihn mit großen Augen an. 

„Bitte hören Sie mir zu, bevor Sie was sagen“, brachte er wie einstudiert hervor. Rolli war erstaunt und machte eine bestätigende Geste mit der Hand. 

„Ich kann mir die Gitarre nicht leisten, noch nicht…“, begann der Junge sehr sanft zu sprechen, „aber ich kriege das Geld schon zusammen, ganz sicher. Ich will keine andere Gitarre mehr spielen. Ich bitte Sie nur, sie für mich zu reservieren.“

Bei so viel Naivität musste Rolli unwillkürlich auflachen. „HA!“, prustete er, „das ist eine limitierte Auflage, so eine krieg ich nie wieder rein. Das ist bares Geld, was da hängt, mein Freund.“

Dem Jungen wich bei dieser Aussage für einen Moment der Mut aus dem Gesicht. Er schluckte, konnte sich aber wieder fangen und entgegnete: „Aber sie hängt doch seit Monaten dort.“

Da Rolli wusste, dass er sie neulich hätte verkaufen können, traf ihn diese Aussage nicht so sehr, wie der Junge es sich vielleicht erhofft hatte. Andererseits konnte der ja nicht ahnen, dass er sie insgeheim wegen ihm behalten hatte. Nun standen sie da, wie schon einmal, in einer Pattsituation. Rolli schob die Hände ineinander, im Kopf führte er einige Berechnungen aus. Schließlich versah er den Jungen mit einem strengen Blick und fragte: „Wie heißt du?“

„Timo“, antwortet der Junge mit gespieltem Selbstbewusstsein.

„Und wie viel Zeit soll ich dir deiner Meinung nach geben, um das Geld zu besorgen, Timo?“

„Nur zwei Monate, dann gehen wir auf Tour.“

„Eine Band hat er also auch“, dachte Rolli bei sich. Er hielt ihn für einen Träumer. „Einen Träumer mit Talent“, ergänzte er in Gedanken. Einerseits lief das Geschäft gerade so gut, dass er es nicht nötig hatte, die Gitarre in den nächsten zwei Monaten zu verkaufen. Andererseits würde ihr Verkauf ihn mindestens bis zum Weihnachtsgeschäft durchbringen. Keine leichte Entscheidung. 

Noch einmal scannte er den Jungen von Kopf bis Fuß ab, nach Geld sah er allemal nicht aus. Aber, und das hatte Rolli gleich bei ihrer ersten Begegnung gemerkt: er besaß eine Passion für das Gitarrenspielen. Etwas, das er heutzutage nur noch selten erlebte bei seinen Kunden. Eine Gitarre wie diese sah er lieber in den Händen eines echten Gitarristen, anstatt in der Sammlung irgendeines reichen Musiksnobs, wo sie als Staubfänger den Rest ihres Lebens fristen würde. In seinem Bauch machte sich dieses Gefühl breit, drängend, fordernd. Er konnte nicht anders, er gab nach. 

„Zwei Monate, nicht mehr. Bar auf die Hand!“, platzte es plötzlich aus ihm heraus. Und bevor er noch etwas erwidern konnte, bedankte sich der Junge mit dem breitesten Grinsen und war im nächsten Moment verschwunden. Wie nach einer großen körperlichen Anstrengung fühlten sich Rollis Beine mit einem Mal schwer wie Blei an. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen und rieb sich die Schläfen. Was hatte er getan? Er liebte Wetten, aber nicht gegen sich selbst und schon gar nicht, wenn alles auf Niederlage stand. Obwohl er längst geschlossen hatte, saß er noch einige Stunden bei offener Tür in seinem Laden und grübelte. Gegen neun Uhr stand er endlich auf, schaltete das Licht aus, schloss die Tür ab und ging nach Hause. 

Am nächsten Tag schien das Interesse an der Gitarre explosionsartig angestiegen zu sein. Gleich zwei Kunden fragten danach. Nur unter größter Anstrengung schaffte es Rolli, sich zu zügeln und sie nicht zu verkaufen. Dementsprechend war seine Laune an diesem Tag. Es war wie verhext, beinahe täglich fragte nun irgendwer nach genau diesem Modell und jedes Mal musste Rolli sagen, dass es für einen sehr wichtigen Kunden reserviert war. Der ließ sich im Übrigen im ersten Monat nach der Wette nicht mehr blicken. Einmal hätte Eisi die Gitarre fast verkauft. Rolli hatte vergessen, ihn einzuweisen und war an diesem Tag in der Stadt unterwegs, als es ihm plötzlich einfiel. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig in den Laden, um den Deal abzubrechen. Enttäuscht und verärgert stürmte die Kundin aus dem Geschäft. Eine Frechheit sei das, Waren anzupreisen, die man gar nicht mehr im Sortiment hat. Eisi verstand die Welt nicht mehr, da hätte er beinahe die teuerste Gitarre verkauft, den Abschluss seines Lebens gemacht und dann durfte er nicht. Das saß ihm sauer auf, zumal er mit Rollis spärlicher Erklärung überhaupt nicht zufrieden war. In den folgenden Wochen redeten die beiden kaum ein Wort miteinander.

Nichtsdestotrotz brachte es Rolli nicht übers Herz, die Gitarre abzunehmen. Er war stolz, sie im Laden hängen zu haben und außerdem zog sie Kunden an, egal, ob sie was kauften oder nicht. Und so musste er einen nach dem anderen ziehen lassen, im Wissen, dass sie wahrscheinlich nie wieder kämen. Desto mehr Zeit verging, desto übel gelaunter wurde Rolli. Das einzige Mal, dass er den Jungen in dieser Zeit wieder sah, war ein Zufall. Er stand am Schaufenster, die Hände halbkreisförmig an die Scheibe gedrückt, um ins Innere sehen zu können. Als Rolli ihn erkannte, winkte er ihn rein, doch der bemerkte ihn nicht und fuhr mit seinem Skateboard weiter.

Während der zwei Monate saß Rolli oft und lange bei Eddy in der Kneipe, um seinen Frust zu ersäufen. Auf dessen Fragen hin, was los sei, meinte er nur mürrisch, er habe eine Wette am laufen, die er sehr wahrscheinlich verlieren werde und die ihn eine Menge Geld kosten würde. Mehr wolle er dazu aber nicht sagen. 

So verging Woche um Woche, bis sich der Stichtag endlich näherte. In der Woche davor war Rolli so aufgekratzt wie noch nie. Er hatte die Gitarre doch abgehängt, da er die Fragen nicht mehr ausgehalten hatte.

Am Mittwoch, dem Tag der geplanten Übergabe, wanderte er bereits lange vor Ladenöffnung nervös durch den Verkaufsraum. Die Morgenstunden verstrichen langsam und quälend. Kein Zeichen des Jungen. In der Mittagspause traute er sich nicht auch nur einen Fuß vor den Laden zu setzen. Er stand hinter der Theke und starrte aus dem Schaufenster. Er begann zu zweifeln. An sich, an der Realität dieser Wette, an seiner mentalen Gesundheit. 

Wieder und wieder wanderte er die Reihen von Gitarren ab und blieb immer wieder bei dieser einen stehen, die er aus dem Lager geholt und an den Verstärker gelehnt hatte. Er verfluchte sie, wollte sie nicht mehr sehen müssen. Gleich an den Erstbesten würde er sie verkaufen, dachte er, für einen Bruchteil des Preises. Da erklang plötzlich das Glockenspiel der Tür. Wie ihm Wahn drehte sich Rolli um und erfasste den Eintretenden mit seinem wirren Blick. Obwohl er ihn erwartet hatte, war er von seinem Anblick so überrascht, dass er unwillkürlich lachen musste. Der Junge sah ihn entgeistert an, in der rechten Hand hielt er sein Skateboard, die linke war frei. 

„Wo ist das Geld?“, platzte es aus Rolli heraus.

„Ich hab’s nicht!“, erwiderte der Junge ganz nüchtern und sachlich. 

„Du hast es nicht! Natürlich hast du es nicht! Du bist nur ein Rotzlöffel, der glaubt, ihm läge die Welt zu Füßen. Jeden Tag hab ich einen Kunden davongeschickt wegen dir! Weil ich an dich geglaubt habe, dass du das Geld auftreibst. Und dann hast du den Mut hier aufzukreuzen und mir ins Gesicht zu sagen, dass du es nicht hast? Ich sollte dich…Nein, das ist zu viel für mein Herz. Ich mach das nicht mehr mit, dafür bin ich zu alt..“, desto weiter Rolli sich in Rage redete, desto unverständlicher wurden seine Worte, desto weniger Sinn ergaben sie. Dennoch blieb der Junge stehen und hörte sich alles an, vielleicht, weil ihn sein schlechtes Gewissen dazu zwang. 

Rolli schimpfte so sehr, dass er sich setzen musste, um durchzuschnaufen. Als er wieder Luft bekam, ging es weiter. Bestimmt eine viertel Stunde drosch er mit Worten auf den Jungen ein. Dann lehnte er sich völlig erschöpft in seinen Stuhl zurück und fasste sich ans Herz. Der Junge machte einen Schritt auf ihn zu, doch Rolli winkte mit der Hand ab und zeigte nach draußen. Mit feuchten Augen trottete Timo zur Tür, schob sie auf, ohne das Glockenspiel auszulösen und quetschte sich durch den kleinen Spalt nach draußen, wo er auf sein Skateboard stieg und davonfuhr. Er fuhr so schnell, dass der Fahrtwind ihm die angestauten Tränen aus den Augen wusch. Sein schlechtes Gewissen jagte hinter ihm her wie eine Meute hungriger Hunde. 

Die Wette war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, so viel Geld hätte er niemals zusammenbekommen, nicht in vier Monaten, nicht in einem Jahr. Dann würde er eben seine alte Schrottgitarre auf Tour nehmen, war eh viel besser. Bei der wäre es auch nicht schade, wenn sie geklaut werden würde. Sein Weg führte ihn direkt zum Skatepark. Auf den letzten Metern stieg er ab, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, da ihn seine Kumpels und Bandkollegen dort erwarteten. Er hatte ihnen nichts von der Sache mit der Gitarre erzählt, sie hätten ihn deswegen nur aufgezogen. Ohne sie begrüßen, erklomm er die höchste Rampe und fuhr einige Runden auf und ab. 

Alle waren da, die ganze Crew, Band und Rowdies, sogar ihr Manager saß auf der Bank und rauchte. Sie hatten vor einigen Monaten einen Vertrag bei einem aufstrebenden Indie-Label unterschrieben, das sie in den kommenden Wochen als Vorband für eine bekannte Punkband aus England auf Tournee durch Europa schicken würde. Nach einer Weile fühlte sich Timo sicher genug, um zum Rest der Truppe zu stoßen. Er öffnete ein Bier und exte es auf der Stelle, dann nahm er gleich ein zweites. Sein Manager ermahnte ihn, nicht zu viel zu trinken, aber Timo hörte nicht und zog das Tempo noch mehr an. Die Jungs feierten sich, als hätten sie die Tour schon erfolgreich hinter sich gebracht. 

Langsam stieg die Sonne vom Himmel und überließ sie der anbrechenden Nacht. Gegen halb 11 kam auf einmal Unruhe auf, der Drummer der Band zeigte auf eine Gestalt, die mit einem Gitarrenkoffer die Straße entlang auf sie zugelaufen kam. Zunächst hielten sie ihn für einen abgebrannten Musiker, der von irgendeinem unbezahlten Kneipen-Gig nach Hause lief. Doch als er näher kam, sprang Timo plötzlich auf, da ihm der Kerl bekannt vorkam. Tatsächlich, er war es, der Gitarrenverkäufer. Reflexartig schnappte er sein Skateboard, um sich im Zweifelsfall aus dem Staub machen zu können. Nur seine Neugierde hielt ihn zurück und so blieb er stehen, bis Rolli ihn in der Menge ausgemacht hatte. Er trat vor ihn, mit einer Kippe im Mund, betrunken und aufgekratzt. 

„Junge“, brachte er mit einer Bestimmtheit hervor, die sein Äußeres nicht hätte vermuten lassen, „hör mir jetzt genau zu und sag am besten nichts. Mein Leben lang war ich Gitarrenverkäufer, den Laden hab ich von meinem Vater geerbt. Ich weiß alles über Gitarren, wie sie klingen, wie sie sich spielen, wie sie riechen, was sie kosten, wer sie kauft und wer sie nicht kauft, einfach alles. In meiner Karriere habe ich wahrscheinlich über 1000 Gitarren verkauft und ebenso viele spielen dürfen. Mein Traum war es immer, eines Tages eine dieser verdammten Dinger an jemanden zu verkaufen, der sie nicht nur als Instrument sieht. Der nicht irgendwelche alten Lamellen nachspielt, sondern ihr ganz neue Töne entlockt. Der damit um die Welt reist und die Massen begeistert. Und heute war ich kurz davor, diesen Abschluss endlich zu machen. Ich hoffe, du verstehst was ich meine. Seit ich dieses Riff von dir gehört habe, wusste ich, dass du Talent hast. Dann kommst du in den Laden und sagst mir, du hast das Geld nicht. Natürlich war ich da wütend, sehr wütend sogar, aber auch enttäuscht, nicht mal wegen dir, aber…Herrgottsack! Sag jetzt kein Wort, sonst überleg ich mir’s anders! Ich geb dir diese Gitarre mit auf deine Tour, als Leihgabe. Als Leihgabe, verstehst du? Sie gehört immer noch mir. Nach der Tour bringst du sie unbeschädigt in den Laden zurück, das versteht sich ja wohl von selbst. Und jetzt nimm sie, bevor ich es bereue.“

Nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, wechselte die Gitarre mechanisch ihren Besitzer von einer zitternden Hand in die andere. Ohne noch etwas hinzuzufügen, machte Rolli auf der Stelle kehrt und ging zurück in Richtung Laden. Timo wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ein lautes, jungenhaftes „Danke“ hallte durch die ansonsten menschenleere Straße, das Rolli nicht mehr hörte oder ignorierte. Dann ging die Party bei den Jungs erst so richtig los. 

Auf den Tag genau drei Jahre, zwei Monate, sieben Tage und 14 Stunden später stand Rolli in seinem Laden und hielt ein Schwätzchen mit Eddy. Der war vorbeigekommen, um Rollis neueste Errungenschaft in Augenschein zu nehmen: einen kleinen Fernseher, der oben im Eck stand und den Laden mit MTV beschallte. 

„Du und MTV, dass ich das noch erlebe“, zog ihn Eddy auf, der um seine frühere Abneigung gegen den Sender wusste.

„Man muss mit der Zeit gehen, meine Kundschaft wird halt immer jünger. Die wollen das sehen. Außerdem sind manche von den Bands gar nicht so schlecht“, verteidigte sich Rolli. 

Sie tranken Kaffee und schauten sich die Musikvideos an, dabei nickten sie entweder zustimmend oder schüttelten verständnislos den Kopf. Ein lautes Rattern ließ sie nach einer Weile aufsehen, draußen vor dem Laden hielt gerade ein schwarzer Bus mit einem großen, grünen Logo darauf. Die hinteren Scheiben waren komplett abgedunkelt. Rolli zog die Nase hoch. 

„Parkt der da, der Trottel?“, raunte er Eddy zu.

„Vielleicht Kundschaft?“, mutmaßte der.

Sie beobachteten, wie die Tür mit einem lauten Zischen aufging und ein schwarz gekleideter Kerl mit Gitarrencase ausstieg, dem Busfahrer etwas zurief und dann kurz wartete, bis dieser davongefahren war. 

„Schau mal, Rolli, der sieht aus wie die Typen im Fernsehen, meinst nicht?“, bemerkte Eddy. 

„Joa, kommt schon hin“, bestätigte Rolli.

Der Fremde aus dem Bus kam tatsächlich auf den Laden zugelaufen, schob die Tür auf und stand für einen Moment wortlos da.

„Mahlzeit!“, begrüßten ihn die beiden Männer.

„Hi!“, grüßte der Fremde zurück. 

Er ließ den Blick durch den Verkaufsraum schweifen, ein Lächeln fuhr über sein Gesicht, als wäre er schon mal da gewesen. Dann wandte er sich an Rolli und meinte: „Ich hab da was, das ihnen gehört.“ 

Rolli verstand nicht. Daraufhin kam der Typ zur Theke gelaufen, legte den Gitarrenkoffer darauf und öffnete den Verschluss. Rolli konnte seinen Augen nicht glauben, als er den Inhalt erblickte. 

„Nein, unmöglich!“, entfuhr es ihm.

„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Sie hat es bis nach Amerika geschafft…unversehrt, versteht sich. Sie hat keinen Kratzer, ich hab sogar ganz frische Saiten draufgezogen…“

Auf einmal stockte der Junge mitten im Satz, sein Blick haftete am Fernseher.

„Ach, da ist sie ja! Das haben wir letzten Monat in Los Angeles gedreht.“

Rolli und Eddy drehten sich fassungslos zum Fernseher um. Tatsächlich, der Typ im Video sah nicht nur so aus wie er, er war es höchstpersönlich. Mit der Gitarre! Den beiden verschlug es die Sprache. Da setzte Timo noch einen drauf: „Und hier sind die überfälligen Leihgebühren…plus Zinsen. Das ist nur fair.“

Ein großer Stapel mit bunten Scheinen lag auf dem Tisch, der auf den ersten Blick mehr Geld zählte, als die Gitarre jemals gekostet hatte. Rolli musste sich setzen, sonst wäre er in Ohnmacht gefallen. Eddy stand mit verschränkten Armen daneben und schüttele ungläubig den Kopf. 

„Ich muss jetzt leider los“, sagte Timo nach einer Weile und ergänzte dann: „Aber wir sehen uns bestimmt bald wieder.“

Ratlos ließ er die beiden zurück. 

Noch am selben Abend hing Rolli die Gitarre in einem Glaskasten hinter der Verkaufstheke auf. Obwohl er sie nie verkauft hat, hat sie ihm bis zum heutigen Tag mehr Umsatz beschert, als jede andere Gitarre zuvor. 


 

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Von Lukas Böhl

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