Mein Selbst

Es war Nacht. Draußen herrschte ein Kampf der Jahreszeiten. Der Frühling wollte Sommer werden und der Winter dachte, er müsse noch ein Wörtchen mitreden. Ich stand an die Wand eines Hauses gelehnt, um nicht vom Regen völlig durchnässt zu werden. Die schweren Tropfen fielen schon lange nicht mehr, sondern schlugen wie kleine Gewehrkugeln auf die Straße ein, wo sie die Trockenheit der vergangenen Tage aus dem Asphalt pressten und den Gestank aus den Gassen lockten. Es war ein durchgehendes, monotones Rauschen, nur ab und zu durch die platschenden Schritte eines Fremden unterbrochen, oder das höhere, langgezogene Zischen eines vorbeifahrenden Autos.

Ich war ein wenig betrunken und auch ein wenig berauscht von all dieser wundersamen Schönheit, die der Regen über die Stadt brachte, indem er alle Geräusche auslöschte und eindrucksvoll bewies, dass Stille nicht immer still ist. Ich jedenfalls liebte diese Art von Wetter, sie vertrieb die meisten Menschen von den Straßen und brachte Einsamkeit, wo sonst nur Trubel herrschte. Man glaubt immer, das Landleben sei einsam, doch dann kommt man in die Stadt und merkt, dass Einsamkeit nicht durch die Ferne zu den Menschen entsteht, sondern ganz im Gegenteil durch die Nähe zu ihnen. Wenigstens in Nächten wie diesen, in denen einen der Regen von ihnen abschottet und man hinter dem Vorhang steht, der sonst die Verlierer, die Verstoßenen und Bedürftigen vor ihnen, der Gesellschaft, verbirgt.

Mein ganzes Leben lang zog mich diese andere Seite schon an, die Menschen waren so viel interessanter, lebendiger, sie kannten eine Wahrheit, die manche von denen da oben, hinter den beleuchteten Fenstern, in ihren Elfenbeintürmen, umbringen würde. Deswegen taten sie alles, um eine Barriere zwischen sich und der Wahrheit aufzubauen. Mehr materielle Dinge für weniger geistige Last. Ich beobachtete die gelb schimmernden Fenster, die Schatten die sich dahinter bewegten und es war, als würden tausend unsichtbare Augen auf mich herabsehen. Ich, der ich mich freiwillig zum Dreck in den Straßen gesellte, der ich ein gefallener Engel war.

Irgendwo in der Ferne sang ein Betrunkener sein Klagelied und verteufelte sich und die Welt. Seine kratzige, lallende Stimme bahnte sich durch die Gassen und Gullis, schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Es war die traurige Titelmelodie der Vergessenen, die am Tage zu den Unsichtbaren wurden. Nur die Nächte gehörten ihnen. Dann, wenn die Vögel verstummten, begannen sie ihr Lied zu singen. Eines, in dem genauso viel Wahrheit und Schönheit steckte, wie in dem der Vögel, gehörte es doch ebenso zum Leben. Mit dem ersten Sonnenstrahl gaben sie ihre Stimme wieder ab, zurück an die Singvögel, und verschwanden, ebenso wie jene es in der Nacht vermochten, sich still und heimlich in ihre Nester zurückzuziehen.

Ich war geschützt genug, um nicht nass zu werden, aber bekam genug Wasser ab, um mich lebendig zu fühlen. Der Rest war tot. Genau in diesem Moment hörte ich Schritte. „Platsch, Platsch, Platsch…“, kündigte sich eine weitere verlorene Seele an. Der Regen machte es zunächst schwer, die Richtung zu bestimmen, aus der die Gestalt kam, doch dann nahm ich in der Peripherie meines rechten Auges eine Person wahr, die sich mit rasanten Schritten auf mich zubewegte. Es war ein Herr mit langem, schwarzem Regenmantel. Offenbar hatte er mich nicht gesehen. Er wirkte irgendwie nervös, so als ob er nach etwas auf dem Boden suchte. Durch den Regen konnte ich undeutlich ein leises Murmeln hören. Unwillkürlich presste ich mich näher an die Wand. Manchen Menschen wollte man nicht begegnen.

Ich behielt ihn im Auge, beobachtete, wie er die Straße hinauflief, bis er schließlich aus Hör- und Sichtweite war. Jetzt hatte ich das Bedürfnis, zu rauchen. Aus meiner Tasche kramte ich die rote Schachtel mit der weisen Aufschrift, dann die Streichhölzer und drehte mich so zur Wand, dass kein Wasser an die Zigarette gelangen konnte. Den Glimmstängel im Mund, versuchte ich, ein Streichholz nach dem anderen zu entflammen. Keines zündete. Ich warf sie alle in den reißenden Strom auf der Straße, der sie mit sich in die Kanalisation hinabzog. Es war nur noch eins übrig. Meine letzte Chance, dem grauen Schleier des Regens einen weiteren Grauton hinzuzufügen. Ich pustete auf den Zündkopf, in der Hoffnung, es würde dann mehr Reibung haben, trocknete es zusätzlich an der Innenseite meines Mantels, setzte vorsichtig an, zog es mit aller Gewalt über die Reibefläche und war sehr erleichtert, als ich die kleine zischende Flamme aufleuchten sah. Es war die Flamme der Hoffnung.

Vorsichtig führte ich sie zur Zigarette, die in meinem Mund steckte, entfachte diese und nahm einen kräftigen Zug. Das Gift begann sofort zu wirken und brannte die letzte Menschlichkeit aus meinem Inneren. Plötzlich hörte ich wieder Schritte, genau aus der Richtung, in die der seltsame Fremde vorhin verschwunden war. Ob er mich wohl bemerkt hatte? Mit meiner freien Hand deckte ich die Glut der Zigarette ab und drehte mich in die Richtung der nahenden Schritte. Es war dieselbe Gehweise. Hektisch, getrieben, ängstlich. Er kam auf mich zu, die Schritte begannen langsamer zu werden, kamen näher, direkt vor mich, verharrten und aus einem unsichtbaren Gesicht sahen mich zwei Augen an. Durch die Dunkelheit sah ich sie nicht, spürte sie aber umso deutlicher auf mir ruhen.

Dann lief er zwei Schritte nach rechts, machte kehrt, zwei nach links und lief im Kreis. Ich hörte sein heiseres Murmeln, es klang wie ein Gebet in der Kirche. Ich dachte, nur noch so ein Verrückter, wie sie zu Tausenden die Straßen bevölkerten, nahm meine Zigarette aus der Tarnung und genehmigte mir einen langen, intensiven Zug. Das ließ ihn aufblicken wie ein scheues Tier. Er sah dem Rauch nach, war plötzlich ganz besonnen. „Sie, ist alles in Ordnung?“, fragte ich mit ruhiger Stimme, von der ich nicht sicher war, ob sie den Regen durchdrang. Offenbar hatte er mich gehört, denn er kam näher, so nah, dass ich sein Gesicht jetzt deutlich erkennen konnte. Es war hager und von langen Falten oder Narben durchzogen, durch die ich glaubte, seine Zähne sehen zu können. Er trug einen schwarzen Regenmantel und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.

Er kam noch näher. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zur Seite. Jetzt stand er direkt neben mir. Sein Mund öffnete sich, offenbarte die fehlenden Zähne. „Ich, ich, ich…habe mein Selbst verloren, könnten Sie es für mich anrufen? Bitte!“ Seine Stimme klang jugendlich heiser, aber verbraucht, versoffen klagend, kreidig, mit dem Nachgeschmack von einer Millionen Zigaretten. Ich hielt ihn immer noch für einen Spinner, einer von denen mit braunem Blut von den vielen Spritzen. Also sagte ich: „Tut mir leid, der Regen. Es gibt keinen Empfang.“ Er sah sich um, als hätte ich etwas völlig Widersprüchliches gesagt, als suche er nach dem Regen, von dem ich gesprochen hatte.

„Das weiß ich doch! Aber mein Selbst, ich habe es verloren, genau hier. Hier muss es gewesen sein. Hier war ich zuletzt. Der Regen hat es weggespült. Und dann war ich dahinten und merkte, dass etwas fehlte. Also kam ich her, doch es war nicht mehr da. Da waren nur Sie. Also bitte, bitte rufen Sie mein Selbst an!“

Ich kannte diese Art von Gesprächen oder glaubte es wenigstens. Rumtreiber wie ich gelangten oft in solche Situationen. Meistens reichte es, nichts zu sagen und ruhig zu bleiben, dann verschwanden sie wieder. Aber in diesem Fall war es bereits zu spät, er war mir zu nahe gekommen, hatte die Barriere durchbrochen. Jetzt half nur noch eins: sich auf die Konversation einlassen, ihm das Gefühl geben, verstanden zu werden und dann schnell einen Grund finden, abzuhauen. Schließlich wollte ich auch morgen früh nochmal aufstehen und nicht mit einem Messer im Rücken in der Gosse aufgefunden werden. „Wo haben Sie es zuletzt gesehen?“, fragte ich, einen kräftigen Zug der Zigarette inhalierend. Er zögerte. „Was, was ist das für eine Frage…?“, begann er. Irgendwie wirkte er nicht wie andere Junkies, nicht zugedröhnt, sondern sehr achtsam und bedacht mit seinen Worten.

„Na, wo war Ihr Selbst zuletzt?“

„Aber was ist das für eine Frage? Es war immer dort, wo ich war. Man kein sein Selbst nicht sehen! Wenn es weg ist, dann ist es weg!“

„Wie in aller Welt soll ich es dann anrufen?“

„Sie haben recht! Ich besitze gar kein Handy. Wir können es nicht erreichen. Was machen wir denn jetzt?“

„Das sagen Sie mir.“

„Wir suchen es!“

„Die Stadt ist zu groß. Es ist dunkel. Es regnet.“

„Sie haben ja recht, so recht. Ich kann es nicht finden, niemals. Es wird bald hell. Dann ist es zu spät.“

Er knöpfte seinen Mantel auf und suchte nach etwas in der Innentasche. Mir fiel auf, dass er einen Anzug trug, der nach Geld aussah, aber schmutzig war. Abgetragen und ungebügelt. Solche Anzüge sah man am Tag im Bankenviertel, wo nicht die Menschen sie trugen, sondern von ihnen getragen wurden. Er fand, wonach er suchte und schmiss sich zwei kleine Tabletten ein. Schwer zu sagen, was es war. Aber er schluckte sie ohne zu kauen. Dann fing er wieder zu reden an: „Ich habe mein Selbst verloren und jetzt ist da nichts.“

„Wer sind Sie?“

„Haben Sie nicht zugehört?“

„Ich habe ja schon vieles gesehen, aber Sie sind mit Abstand die Krönung.“

Stille. Aufsteigender Rauch, niedergerungen von Millionen schwerfälligen Tropfen. Reue. Warum hatte ich das gesagt? Er könnte mich jeden Moment abstechen, für ihn war ich nicht mehr als ein Fliegenschiss auf seinem dreckigen Anzug.

„Sie haben recht, Sie haben schon wieder recht. Hier fühle ich mich wohl. Ich bin der König des Abschaums. Ich verkehre mit den Reichen und lebe bei den Ratten.“

„Ja? Ich meine, das ist in Ordnung. Mir gefällt es hier auch ganz gut…“

„Aber Sie sind nicht wie ich. Sie haben sich selbst, ihr Selbst. Ich habe nichts mehr, es ist weg. Und wenn Sie es nicht anrufen, dann verschwinde ich. Und Sie, Sie guter Mensch, Sie haben ihr Leben und ich habe nichts. Nur diese Nacht und dann bin ich weg, weil ich mein Selbst nicht finde. Und Sie haben es noch. Also geben Sie es nie weg, oder Sie werden es bereuen und sterben wie ich. Langsam, langsam verrotten…wie ich. Ihre Seele wird verhungern, wie die meine. Wenn ich jetzt mein Selbst nicht finde, bin ich morgen früh tot. Ich muss hier weg, Sie sind noch am Leben. Sie können mich bald nicht mehr sehen. Ich muss hier weg, sonst umgibt Sie der Tod. Flüchten Sie, verlassen Sie diesen Ort. Hier ist nichts für Sie und war nie etwas für mich. Doch ich blieb hier und sah zu, wie es mich auffraß. Gehen Sie, gehen Sie!“

Seine Stimme wurde immer lauter, bis sie in ein hysterisches Schreien überging. Dann sah er mich entsetzt mit seinen leeren Augen an und rannte davon. Das Gespräch hatte keine Zigarette gedauert, sie glühte noch in meiner Hand. Ich warf sie ins Wasser, sah ihr nach, sah ihm nach und sah dem Regen zu, sehnte mich nach Ruhe. Von irgendwoher strömte ein Verständnis in meinen Verstand, das größer war als ich, größer als die Menschheit selbst. Da war ein Friede und eine Leere. Morgen würde ich zurück auf’s Land fahren. Seine Worte hallten in meinen Ohren nach, da war eine Wahrheit, die jetzt über allem stand und mir befahl, diesen Ort zu verlassen. Kann ein Gespräch von der Länge einer Zigarette ein Leben retten? Kann es ein anderes zerstören?

Er war weg, ich ging zurück ins Hotel. Die Straßen waren schwarz wie die Leere in seinen Augen, wie die Löcher in seinem Gesicht. Er war wie diese Stadt, ihr menschgewordenes Spiegelbild. Über dem Hoteleingang surrte und summte das neonrote, mit Spinnweben übersäte Eingangsschild, auf dem sich einige fette Spinnen um die hängengebliebenen Schnaken und Nachtfalter stritten. Ich trat ein, ging direkt auf mein Zimmer und wollte schlafen. Aber ich konnte nicht, ich hörte Stimmen, Worte, seine Worte, immer wieder. Es war, als wäre er in meinem Zimmer, direkt neben dem heruntergekommenen Bett. Ich träumte in schwarz, alles war dunkel und trotzdem war ich wach. Endlich ein Strahl, ein Licht, ein Weiß. Die Morgensonne! Es war Zeit zu gehen. Ich öffnete die Augen, ein Lichtstrahl fiel direkt auf meine Wange. Ich packte meine Sachen. Dann ging ich zur Rezeption und checkte aus.

Ein letztes Mal wollte ich durch diese hässliche Asphaltwüste laufen, um zu sehen, ob nicht alles nur ein Traum gewesen war. Mit meinem Rucksack streifte ich in den noch nassen Gassen umher, in denen sich zu so früher Stunde nur ein paar verirrte Sonnenstrahlen verfingen. Die Pfützen waren tief, reflektierten den Himmel wie ein riesiges Meer. Ich wollte hineinspringen und abtauchen. Ich lief und lief und lief. Die Stadt erwachte zum Leben, von den Schatten der Nacht war bald nichts mehr zu sehen. Die Schnapsdrosseln waren verstummt und die letzten Reste ihres Treibens von den Mitarbeitern der Stadt schon entfernt. Man sah Kinder, die zur Schule gingen, Mütter, berufstätige Frauen, Männer mit Helmen, Männer mit Anzügen, Männer, die Frauen waren. Die Stadt lebte, war nicht länger tot, die Einsamkeit für einen weiteren Tag vergessen.

Ehe ich es mir versah, stand ich inmitten des Bankenviertels mit den irsinnig hohen Wolkenkratzern. Ich sah an ihnen hinauf und fühlte etwas wie Ehrfurcht, mehr Furcht als Verehrung. Den Kopf in die Luft gehalten, spazierte ich über den Platz, gebannt von der schieren Unsinnigkeit dieser Gebäude. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merkte, wo ich hintrat. Plötzlich spürte ich etwas Glitschiges unter mir, als wäre ich in Matsch getreten. Hier, direkt neben einem Mülleimer, hatte ein Hund sein Geschäft verrichtet und ich war reingetreten. Auch das noch. Ich fluchte. Da hörte ich auf einmal eine seltsam vertraute Stimme.

Ich drehte mich um, ein Mann stand hinter mir und sagte etwas. Sein Gesicht war mir fremd, doch es rief ein vages Gefühl von Bekanntschaft in meinem Gedächtnis hervor. Irgendwoher kannte ich ihn. Alles an ihm war aalglatt, von den schwarzen Lederschuhen über den Anzug bis zu den nach hinten gelegten Haaren und den blendend weißen Zähnen. Er reichte mir ein großes, weißes Taschentuch und sagte lächelnd wie einer dieser Zahnärzte aus der Werbung:

„Das Leben ist wie ein Scheißhaufen. Man sieht es nicht, dann tritt man hinein, und wird schließlich abgewischt, bis nichts mehr übrigbleibt.“

„Ja…“, stammelte ich, in der Hoffnung, sein Gesicht einer Erinnerung zuordnen zu können. Hatte ich ihn in der Werbung gesehen oder war er ein Politiker? Ein berühmter Unternehmer vielleicht? Ich wischte meine Schuhe vorsichtig ab, um nichts an die Hände zu bekommen. Dann fragte ich: „Wie spät ist es?“

„Stellen Sie sich vor, ich besitze drei Handys und weiß trotzdem nie, wie spät es ist.“

Er kramte mit seinem Zahnarztlächeln ein Handy aus der Innentasche seines Anzuges und sagte mir dann, dass es kurz nach halb 8 sei.

„Ich muss los!“, rief ich.

„Gehen Sie, bevor es zu spät ist.“

Plötzlich stockte mir der Atem, diese Stimme, diese Augen. Mein Hirn ratterte, die gesuchten Informationen drangen durch den Schleier des Vergessens. Er zwinkerte mir zu, drehte sich um und verschwand in einem der Wolkenkratzer. Da ergab alles Sinn.

Es war Tag.

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Von Lukas Böhl

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