Der Geist der Zigarrenfabrik

Der Herbstwind wehte über den Spielplatz und drehte das kleine Stehkarussell wie von Geisterhand. Jan saß im Gras zwischen den gefallenen, braun gewordenen Blättern und rupfte einzelne Büschel samt der Wurzel aus der Erde. Maxi hing kopfüber vom Klettergerüst und zog Grimassen, die den vielen Erwachsenen galten, die ihn in seinem Leben enttäuscht hatten. Obwohl gerade Ferien waren, spielten die beiden allein. Einige der Jungs waren mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren, andere aufgrund des schlechten Wetters Zuhause geblieben. Sobald man eine Jacke anziehen musste, um raus zu gehen, war der Sommer vorbei und damit all die wunderbaren Spiele, die er mit sich brachte.

Für Jungs in ihrem Alter war der Herbst meist eine lästige Jahreszeit, eine Wartejahreszeit, zwischen der Hitze des Sommers und dem Schnee des Winters. Für Kastaniensammeln war man bereits viel zu alt und um nur noch drinnen abzuhängen,  zu jung. Der Himmel war von einer dicken Wolkendecke überzogen, die alles in ein schwermütiges Grau tauchte. Maxi schwang sich geschickt nach oben, griff mit seinen kleinen Armen eine Stange des Klettergerüsts, hielt sich einen Moment lang fest und ließ dann los. Er landete mit einem dumpfen Schlag auf dem frischen Rindenmulch. Dann ging er zu Jan rüber, der immer noch auf dem Boden hockte und gelangweilt zu den Feldern sah, wo das hohe Gras vom Wind wie Wellen erst in die eine, dann in die andere Richtung geworfen wurde.

Maxi ließ sich ein Stück hinter ihm nieder und fing ebenfalls an, Gras aus dem Boden zu reißen und in den Wind zu werfen. Es wurde einige Meter durch die Luft getragen, bevor es in einem nahestehenden Busch hängen blieb. Ihre jungen Geister gaben sich nicht lange mit einer derartig eintönigen Beschäftigung zufrieden. Bald ließen sie vom Gras ab und starrten einfach nur geradeaus. Trotz der Langeweile kam es keinem der beiden in den Sinn nach Hause zu gehen. Allein die Möglichkeit eines bevorstehenden Abenteuers, rechtfertigte das nutzlose Rumhängen im kalten Wind. Nach einer kurzen Zeit des stillen Verharrens, förderte Maxi einen großen Klumpen Dreck aus der Erde und schmiß ihn auf Jan, der mit dem Gesicht zu den Feldern gewandt, nicht ausweichen konnte. Das Geschoss traf ihn direkt am Rücken, prallte von seiner grauen Regenjacke ab und landete hinter ihm auf dem Boden.

Jan drehte den Kopf zu Maxi, sah ihn böse an, versuchte dann an seinem Rücken hinabzusehen und wischte mit der linken Hand den hängengebliebenen Dreck so gut es ging von seiner Jacke. Das würde er noch büßen müssen, dachte er, aber nicht jetzt. Die Dringlichkeit der alles einnehmenden Langeweile forderte eine sofortige Gegenmaßnahme. Jan stand auf und lief zu Maxi rüber, der, in Erwartung einer Vergeltungsaktion, bereits die Arme schützend vors Gesicht hielt. Als Zeichen des Friedens hielt ihm Jan die offenen Hände vor die Nase und winkte damit hin und her. Maxi nahm die Deckung runter und sah ihn neugierig an.

„Was machen wir?“, wollte Jan von ihm wissen.

„Weiß nicht“, erwiderte Maxi und zog eine Schnute.

„Komm, wir gehen woanders hin“, schlug Jan vor.

„Ok“, stimmte Maxi bereitwillig ein.

Jan zog ihn auf die Beine und gemeinsam liefen sie vom Spielplatz in Richtung Grundschule, um zu sehen, ob nicht doch ein paar der anderen Kinder draußen waren. Vom Spielplatz zum Schulhof waren es nur gut 50 Meter über den angrenzenden Bolzplatz. Nicht nur, dass dieser völlig menschenverlassen war, auch der Schulhof ähnelte einem Sperrgebiet. Die bunten Kreidezeichnungen auf dem Asphalt vor dem Haupteingang wirkten unheimlich deprimierend im graublassen Licht, das vom Himmel fiel. Der Wind peitschte durch die Hecken, die den Lehrerparkplatz vom Schulhof abgrenzten, einzelne Blätter fegten über den Boden und das Kettennetz des Basketballkorbes rasselte in einer schauerlichen Melodie. Die zwei standen mitten auf dem Hof und sahen sich um. Jan gähnte laut und kratzte sich am Kopf. Maxi sagte, er müsse mal pinkeln, ging auf eine große Pfütze auf dem unteren Teil des Schulhofes zu, die der Regen der letzten Tage in einer Kuhle unterhalb des Zaunes über der Garage des Hausmeisters gebildet hatte, und ließ es laufen.

Zu den vielen Geräuschen des Schulhofes gesellte sich nun auch ein leises Plätschern. Jans Augen fielen auf einen Busch Hagebutten, der den unteren Teil des Schulhofes vom oberen trennte und erkannte sofort seine Chance. Maxi, der ohne Rücksicht auf Spritzwasser, seinen Strahl quer über die ganze Pfütze dirigierte, stand mit dem Rücken zu ihm und würde nichts mitbekommen. Schnell schnappte er sich eine handvoll Hagebutten und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Dann stellte er sich zurück an die Stelle, wo er gerade gestanden hatte und sah Maxi zu, der immer noch pinkelte und über seine eigene Verwegenheit kicherte. Schließlich knöpfte er die Hose zu, zog die Nase hoch, spuckte einen riesigen Klumpen Rotze in die Pfütze und drehte sich selbstzufrieden um. „Hahaha, das wird stinken, wenn es trocknet“, verkündete er stolz, als er auf Jan zugelaufen kam. Der musste ebenfalls lachen, als er daran dachte, wie die Mädchen sich ekeln würden. Einmal hatte Maxi’s Katze in einen der großen Blumentöpfe auf dem Schulhof geschissen und die Lehrer und Schüler sich tagelang über den Gestank beschwert. Sie klatschten einander ab.

Nachdem feststand, dass niemand hier war und es vermutlich dabei bleiben würde, beschlossen sie weiterzuziehen. Ihr Instinkt führte sie in Richtung Dorfmitte. Sie folgten der Schulstraße bis zur übernächsten Kreuzung, bogen dort rechts ab, nahmen einen kleinen Schleichweg, der hinter den Häusern durch zwei Gartengrundstücke führte und fanden sich schließlich vor der alten Zigarettenfabrik wieder, die gerade umgebaut wurde. Ein großes Gerüst war um das Gebäude errichtet, während das Grundstück durch einen Bauzaun gesichert war. Man hatte die Fenster entfernt, sodass die beiden einen Blick ins Innere werfen konnten. Es war ziemlich dunkel im Gemäuer, was sofort die Abenteuerlust in den Jungs weckte. Maxi, der fast um die Ecke wohnte, wunderte sich, weshalb er diesen Schatz nicht früher entdeckt hatte. Jan erkannte am entschlossenen Ausdruck seiner Augen, was gleich kommen würde. In Ermangelung einer besseren Alternative und in Anbetracht des Potenzials dieser Ortes, unterdrückte er den aufkommenden Protest. 

„Wir müssen da rein!“, war das nächste, was Jan von Maxi vernahm.

„Ja!“, kam sofort die Antwort. Maxi war verblüfft, wie schnell Jan zugestimmt hatte. Sonst war er eher der schüchterne, zurückhaltende Typ, der mehr Überzeugungsarbeit bei solchen Aktionen brauchte. „Okay…“, erwiderte er etwas verdutzt und zog Jan hinter sich her. Sie liefen den Bauzaun ab, um nach einer geschickten Möglichkeit zu suchen, hineinzuschlüpfen. Da Sonntag war, war niemand auf der Baustelle anzutreffen. Die Öffnung im Zaun, die die Bauarbeiter als Eingang nutzten, war mit einer Kette und einem Schloss gesichert. Aber sie war ohnehin viel zu auffällig, da die Zigarettenfabrik an einer zwar wenig befahrenen Seitenstraße lag, die Gefahr entdeckt zu werden, aber dennoch zu groß war. Außerdem lag gegenüber ein Wohnhaus, aus dem jeden Moment die Besitzer herauskommen hätten können. Der Zaun umspannte das komplette Grundstück und wies nicht eine offene Stelle auf. Aber auf der der Straße abgewandten Seite lag ein kleiner Garten, der zur Fabrik gehörte.

Maxi überlegte. An einer Stelle stand der Zaun auf Gras. Da die einzelnen Paneele in Beschwerungssteinen standen, war darunter etwas Luft, gerade genug, um sich durchzuquetschen, schlussfolgerte Maxi. „Hier gehen wir durch“, wies er Jan an.
„Geh du vor“, antwortete der, jetzt doch etwas verunsichert durch seinen Fluchtinstinkt.
„Aber lauf nicht weg“, erwiderte Maxi, der spürte, was ihn ihm vorging. Dann legte er sich ins Gras und robbte unter dem Zaun hindurch. Seinen Hintern musste er regelrecht hinter sich herziehen, da dieser beinahe stecken blieb. Auf der anderen Seite raffte sich Maxi schnell auf, klopfte den Staub von seinen Klamotten und winkte Jan aufgeregt zu. Der sah sich unsicher um, ob sie niemand gesehen hatte. Jetzt konnte er noch sagen, nur Maxi sei durchgekrochen und wäre wahrscheinlich davongekommen.

Da aber weit und breit kein Erwachsener zu sehen war und er vor Maxi auch nicht als Feigling dastehen wollte, schmiss er sich schnell hin und robbte los. Er war etwas kräftiger als Maxi und musste sich ganz schön dünn machen, um durch die schmale Öffnung zu passen. Als er zur Hälfte durch war, griff sich Maxi seine Arme und zog an ihm. So stark, dass Jans Fuß mit voller Wucht gegen den Zaun prallte und ein lautes Klappern durch den Zaun fuhr. Maxi sprang panisch davon, in Richtung Eingang, Jan folgte ihm rasch, nachdem er sich aufgerichtet hatte. Die Eingangstür war verschlossen, aber da die Fenster fehlten, stiegen sie schnell durch eines ins Innere und versteckten sich unterhalb des Fenstersims.

„Pssst“, fuhr Maxi Jan an, der seiner Meinung nach zu laut schnaufte.

„Mein Fuß tut weh“, schnauzte der zurück.

„Sei leise, vielleicht hat uns jemand gehört“, befahl Maxi.

Die Jungs verstummten und lauschten den Geräuschen, die von draußen zu ihnen drangen. Ein Auto kam die Straße hinuntergefahren. Die beiden erstarrten vor Schock. Es fuhr vorbei und verschwand mit einem immer leiser werdenden Rauschen. Dann spitzten sie die Ohren, weil sie sich einbildeten, Stimmen zu hören. Aber es war nur der Wind, der durch die offenen Fenster pfiff. Maxi, der eine billige Digitaluhr am Arm hatte, flüsterte zu Jan gelehnt, dass sie fünf Minuten warten müssten, bevor sie sich wieder rühren konnten. Weshalb es genau fünf Minuten waren, konnte Jan nicht sagen, aber es klang vernünftig. Und so harrten sie fünf lange Minuten aus, ohne auch nur ein Wort zu sagen oder einen unnötigen Atemzug zu nehmen. Als die Zeit rum war, tippte Maxi Jan an die Schulter. Die magischen fünf Minuten hatten es nicht nur geschafft, die Angst verfliegen zu lassen, sondern hatten auch die Abenteuerlust in den beiden erneuert. Hätten sie nur vier Minuten gewartet, wäre das vielleicht nicht passiert. Aber wenn sich kein Erwachsener in fünf Minuten rührt, um Ärger zu machen, dann hat er kein Interesse an einer Auseinandersetzung und kümmert sich lieber um Erwachsenendinge.

Mittlerweile hatten sich ihre Augen an die relative Dunkelheit gewöhnt, die in der Zigarrenfabrik herrschte. Sie befanden sich in einem hohen Raum, der die komplette Fläche des Gebäudes einnahm. Auf dem Boden lagen Malerteppiche und Plastikfolien, die Wände waren freigelegt und die alten Backsteine schimmerten überall durch. Neben dem Staub, lag noch ein anderer Geruch im Raum. Jan zog einige Male schnell hintereinander die Nase hoch. „Riechst du das?“, fragte er Maxi.

„Ja. Riecht wie die Zigaretten meiner Mama.“

„Echt?“

„Ja.“

„Cool.“

Abgesehen vom Geruch erinnerte nichts mehr an die einstige Nutzungsweise der alten Fabrik. Es war nicht mehr als ein Rohbau. Die beiden gingen den ganzen Raum ab, um nach etwas Interessantem zu suchen. Doch da standen nur ein paar Baugeräte, Schubkarren und Baumaterialien rum, von denen sie lieber die Finger ließen. Eines aber weckte die Aufmerksamkeit der beiden, als ihre Augen schließlich fast gleichzeitig darauf fielen. In der Ecke stand eine große Leiter, die offenbar in den zweiten Stock führte.
„Da klettern wir hoch!“, verkündete Maxi sofort, um sich vor Jan als mutig zu erweisen. Der war ohnehin etwas skeptisch, da es eine einfache Bauleiter war, die an der Wand lehnte und nirgends befestigt war.

„Das ist voll hoch!“, erwiderte er, in der Hoffnung, Maxi davon abbringen zu können.

„Gar nicht, das sind 3 Meter oder so. Unser Balkon ist viel höher…“

„Hmm.“

„Komm, jetzt sind wir schon drin“, sagte Maxi dann und ging auf die Leiter zu.

Als hätte er es sich von einem Erwachsenen abgeschaut, ruckelte er zunächst an der Leiter, um deren Stabilität zu überprüfen. Jan sah gespannt zu. Die Vorstellung machte mächtig Eindruck auf ihn und da die Leiter sich kaum bewegte, schlussfolgerte er, dass ein Kind ohne Probleme hochklettern könnte. Maxi drehte sich zu ihm und rief: „Komm, ich geh zuerst und du hältst sie fest. Wenn ich oben bin, halte ich sie fest und du kletterst hoch.“
„Okay“, stimmte Jan zu, ging zur Leiter und sah zu, wie Maxi Sprosse für Sprosse die sicher mehr als 3 Meter hohe Leiter emporstieg. Als er oben angekommen war, sah er nochmal zu ihm hinunter, stützte sich dann auf dem Boden des Obergeschosses ab und verschwand in der Dunkelheit. Jan wurde auf einmal mulmig zumute, da es für einen Augenblick ganz still war. Schon spürte er den Reflex, abzuhauen, als Maxi’s Stimme gespenstisch von oben zu ihm herunterdrang: „Kommst du, oder was?“
„Ja“, rief Jan zur Antwort. Seine leise Stimme wurde von den hohen Decken geschluckt und Maxi rief von oben: „Hä?“

In diesem Moment war Jan schon auf der Leiter und kletterte ganz vorsichtig hinauf, indem er bei jeder Sprosse sicherstellte, dass sowohl seine Füße als auch seine Hände einen sicheren Halt hatten. Er wollte es vor Maxi zwar nicht zugeben, aber er hatte ziemliche Höhenangst. Vor allem dann, wenn er den Boden, so wie jetzt, ganz deutlich unter sich erkennen konnte. Die tatsächliche Höhe spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Aber die Neugierde überwältigte die Angst und so griff er bald nach Maxi’s Hand, die ihn voll nach oben zog. Dort oben war es viel finsterer als im Untergeschoss, nur wenig Licht drang durch einige kleine Fenster an der Seite ins Innere. In der Luft lag ein muffiger, staubiger Geruch, der die beiden husten und niesen ließ. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Doch dann präsentierte sich ihnen ein wahrlich abenteuerlicher Anblick. Es war ein Dachboden wie aus den besten Schauergeschichten, die sie zwar immer hören wollten, aber dann nachts, alleine in ihrem Bett, nicht schlafen ließen.

Der alte Holzboden knarzte und quietschte, wenn man darauf trat. In den Ecken waren große Spinnweben mit dicken Spinnen darin. Das Dachgebälk lehnte sich bedrohlich über ihnen herab. All das war pure Faszination und blanke Angst zugleich. Allein die Tatsache, dass sie zu zweit waren, ließ sie nicht die Flucht ergreifen. Sie bewegten sich nur sehr langsam voran und blieben dabei penibel in der Mitte des Raumes, um den gruseligen Ecken nicht zu nahe zu kommen. Im Raum standen einige alte Möbel verteilt, die teilweise mit Tüchern abgedeckt waren. Worauf beide aber unbewusst zusteuerten, war etwas anderes. Eine große grünliche Truhe, die schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte, stand, unter das Dachgebälk gequetscht, etwas weiter hinten im Raum und wartete nur darauf, von zwei waschechten Nordstetter Entdeckern geöffnet zu werden. Obwohl die beiden sich nicht trauten, die Stille durch den leisesten Ton zu durchbrechen, steuerten sie wie von Geisterhand darauf zu.

Wieder war es Maxi, der sich zusammennahm und den ersten Schritt tat. Er kniete sich vor die Truhe und suchte nach einem Weg, sie zu öffnen. Jan stand etwas weiter hinten und sah sich um, stand Wache, falls ein Geist auftauchen sollte. Dieser Dachboden war wie entrückt, Lichtjahre von Nordstetten entfernt. Das alte Gemäuer schien jedes Geräusch, das versuchte, von draußen zu ihnen vorzudringen, zu schlucken. Man hörte nichts, bis auf das leise, angespannte Atmen der beiden Jungs. Und wenn man ganz genau hinhörte, war da auch ein immer schneller werdendes Pochen. Maxi musste es selbst gehört haben und stimmte schnell ein fröhliches Pfeifen an. 

„Pssst!“, fuhr in Jan zornig an.

„Wieso?“, wollte Maxi erschrocken wissen.

„Weil ich dann nichts höre!“

„Was willst du hören?“, fragte Maxi unruhig.

„Weiß nicht…“, erwiderte Jan unsicher, erstaunt über den tieferliegenden Sinn seiner Antwort.

Maxi kapierte es auch und wurde plötzlich ganz still. Sie spitzten die Ohren und hörten dem Unhörbaren zu. Wieder vernahmen sie nur die Luft, die abwechselnd in und aus ihren Lungen strömte. Da war nichts. Aber damit sie von dem Monster aus dem Nichts nicht überrascht werden konnten, mussten sie still sein. Das hatte jetzt auch Maxi kapiert. Trotzdem wollte er wissen, was in der Truhe verborgen lag. Mit dem Zeigefinger dirigierte er Jan wortlos zu sich an seine Seite. Dann, als sich Jan neben ihn gesetzt hatte, deutete er an, dass sie den Deckel bei drei gemeinsam anheben sollten. Nacheinander streckte er drei Finger seiner rechten Hand in die Höhe, nickte dann zur Truhe und brachte gemeinsam mit Jan all seine Kraft auf, um den schweren Deckel anzuheben. Zu ihrer Verwunderung ließ sich die Truhe ganz einfach öffnen, da der Deckel nur aus einer dünnen Schicht Holz bestand. Der Deckel klappte auf, schlug an die Balken und musste von Jan abgefangen werden, um nicht wieder herunterzukrachen.

Das Öffnen der Truhe setzte einen modrigen, muffigen Holzgeruch frei. Jan hob sich den Ärmel seiner Jacke vor die Nase, Maxi hielt sie sich mit Daumen und Zeigefinger zu. „Das riecht wie bei meiner Oma im Schrank“, stellte Jan angeekelt fest. Maxi nickte. Nachdem sie den Geruch ein wenig mit den Händen verteilt hatten, konnten sie sich den wichtigeren Dingen widmen, nämlich dem Bergen des Schatzes. Die Truhe war relativ flach, im Inneren lagen wahllos verschiedenste Dinge verteilt, die teilweise in kleineren Truhen oder Säckchen verstaut waren. Jan griff nach einer kleinen Holzschachtel mit schwarzer Aufschrift. Sie hatte einen vergoldeten Druckverschluss mit schwarzen Verfärbungen. Jan brachte sie ganz nahe an seine Augen und versuchte zu lesen, was darauf geschrieben stand. Es war eine eigentümliche, verschnörkelte Schrift wie er sie aus den alten Zeitungen kannte, die sie mal in der Schule hatten lesen müssen. „Ci-gar-ren-fa-brik Ge-brü-der Gi-di-on“, las er langsam vor. Maxi riss im die Schachtel aus der Hand und las selbst vor. Auch er tat sich schwer.

„Cigarrenfabrik Gebrüder Gidion“, verkündete Jan schließlich.

„Wieso schreibt man das mit C?“, wollte Maxi von ihm wissen.

„Weiß nicht“, musste Jan zugeben, der sich ebenfalls wunderte.

„Ich mach sie auf“, bekundete Maxi entschlossen.

Er löste den Druckverschluss und hob den kleinen Deckel an. Der Geruch, der aus der Schatulle strömte, löste einen heftigen Hustenreiz in ihm aus. „Das riecht wie Kacke!“, brachte er zwischen den Hustenanfällen heraus. Jan musste lachen, lehnte sich zu ihm rüber und bekam ebenfalls eine Nase ab. „Bäh“, rief er, „ist da Hundescheiße drin?“
Die Vorstellung, dass jemand Hundekot in einer so edlen Schatulle verwahren würde, löste einen mittelstarken Lachanfall in den beiden aus. Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefangen hatten und als die dann merkten, dass der Inhalt der Schatulle aus länglichen, würstchenförmigen Rollen bestand, war es um sie geschehen. Sie wälzten sich vor Lachen auf dem staubigen Boden. Jan musste so sehr lachen, dass sein Bauch krampfte und er regelrecht nach Luft schnappen musste. Maxi dagegen hatte immer noch die Schatulle in der Hand, die durch sein Gelächter so in Wallung geriet, dass eine der Zigarren sich löste und auf seinem Brustkorb landete. Von dort rollte sie hinunter in Richtung Hals, wo sie liegen blieb und ihren unangenehmen Geruch in Maxis Nase verteilte.

„Ich hab Kacke auf mir“, rief er plötzlich ganz erschrocken, griff danach und schleuderte sie direkt auf Jan. Sie traf ihn im Gesicht, wo sie abprallte und dann auf den Boden fiel. „Was soll das?“, schimpfte dieser verärgert und rückte schnell zur Seite. Als sein Blick auf das Ungetüm fiel, zählte er schließlich 1 und 1 zusammen. „Das ist keine Kacke,“ rief er aufgeregt, „das ist eine Zigarre!“
„Was?“, murmelte Maxi, der nicht recht verstand. Jan hob den Stumpen auf und hielt ihn Maxi, der immer noch auf dem Rücken lag, vor die Nase. „Das“, sagte er, indem er auf die Zigarre deutete, „ist eine Zigarre.“
„Mach das weg“, drohte Maxi und fuchtelte mit der Hand vor seiner Nase herum, „das stinkt!“
Endlich setzte auch er sich wieder auf und begutachtete die in der Schatulle verbliebenen Zigarren. Jan drehte und wendete seine in der Hand. Es war eine einfache, etwa 10 cm lange Zigarre ohne Etikett. „Wie raucht man die?“, fragte er sich, indem er nach dem Mundstück suchte.  Maxi sah in fragend an, auch er wusste es nicht, obwohl er seine Mutter schon unzählige Male dabei beobachtet hatte, wie sie eine Zigarette geraucht hat. Er nahm eine weitere Zigarre aus der Schatulle und studierte sie aufmerksam.

„Also bei meiner Mama ist unten ein Stückchen braun und da zieht man dran“, stellte er fest.

„Aber die ist ganz braun“, beobachtete Jan.

„Hmm…weiß auch nicht, vielleicht raucht man die von beiden Seiten“

„Kann sein…sieht aus wie eine Kackwurst.“

„Hahahah, ja wirklich!“

Da keiner von beiden großes Interesse an Zigarren hatte und der Geruch mittlerweile unerträglich geworden war, legten sie sie zurück in die Schatulle, schlossen sie und stellten sie beiseite. Immerhin gab es noch mehr in der Truhe zu entdecken. Als nächstes förderten sie ein altes Jutesäckchen zutage, dessen Inhalt weich und biegsam war. Maxi zog ihn auf, während Jan die Hand hineinsteckte, nach etwas griff, das sich wie eine große Briefmarke anfühlte und es herauszog. Tatsächlich war es eine Art Briefmarke, nur zwei- oder dreimal so groß. Die Seiten waren gewellt und auf der Vorderseite war ein bunter Aufdruck. Die zwei schoben ihre neugierigen Gesichter zusammen und glotzten aufgeregt auf das kleine Bildchen. Es war in einen orangenen Rahmen eingefasst, in dem im unteren Teil etwas geschrieben stand. Darüber befand sich eine Illustration von sieben Männern, die eine riesigen Zigarre wie einen Rammbock in den Händen hielten und damit bedrohlich auf einen Hasen zuliefen, der im linken Teil des Bildes auf den Hinterpfoten stand und die Ohren spitzte. Über dem Hasen war ein Wappen zu sehen. Von links nach rechts zog sich ein weiterer Schriftzug: „Lasst euch Schwaben-Prügel geben“ Unten stand: „Alleinige Fabrikanten: Cigarrenfabrik Nordstetten-Horb. Gebrüder Gidion.“

„Cool!“, schoss es aus Jan heraus.

„Die wollen den Hasen umbringen!“, stellte Maxi fest.

„Ist das eine Briefmarke?“

„Weiß nicht, vielleicht. Ein bisschen groß…Was ist noch drin?“

Jan zog noch weitere Reklamemarken aus dem Beutel. Manche waren identisch mit der ersten, anderen zeigten zwar dieselbe Abbildung, waren aber mit anderen Farben verziert. Mal war der Himmel anders illustriert, mal die Umrandung. Da aber alle mehr oder weniger gleich waren, hielten sich die Jungs nicht lange damit auf, sondern widmeten sich den anderen Gegenständen in der Truhe. Unter anderem fanden sie ein Buch mit der Aufschrift „Dorfgeschichten“, das sie kurz durchblätterten und dann weglegten. Darüber hinaus waren noch einige alte Bilder in der Truhe. Vielmehr handelte es sich dabei um Ansichtskarten, die meisten davon in Schwarzweiß, die Nordstetten aus verschiedenen Perspektiven zeigten. 

„Man, die sind echt alt. Bestimmt 100 Jahre oder so“, schätzte Maxi, als er einige Ansichtskarten genauer betrachtete. „Hier steht sogar was drauf, aber ich kann es nicht lesen…“
„Gib mal her“, sagte Jan und nahm die Karte an sich. Tatsächlich war es eine alte Postkarte, auf deren Rückseite jemand etwas geschrieben hatte. Aber auch Jan konnte die schnörkelige Schrift nicht entziffern. „Der hat noch hässlicher geschrieben als du!“, ärgerte er Maxi und legte die Karte zurück in die Truhe. Dort, bis dahin von den Ansichtskarten und Fotografien, verborgen, lag ein altes Messer, das jetzt beide zeitgleich ins Auge fassten. Ohne nachzudenken schnellten ihre gierigen Hände nach vorn, um nach dem Schatz zu schnappen. Sie trafen sich auf halbem Weg und bekamen jeweils ein Ende des Klappmessers zu fassen.

„Das ist meins!“, verkündete Jan.

„Ich hab’s ja wohl zuerst gesehen“, konterte Maxi.

„Gar nicht!“

„Doch!“

„Lass los.“

„Lass du los!“

So ging das eine ganze Weile, bis ein Geräusch die beiden aufschrecken ließ. Es klang, als liefe etwas durch das Gebälk über ihnen. Die beiden erstarrten sofort und schauten mit offenen Mündern nach oben. Jan’s freie Hand griff nach Maxi, hielt sich an seiner Jacke fest und rüttelte daran. Maxi aber reagierte nicht darauf, sondern versuchte, den Geräuschherd auszumachen, denn wieder rannte etwas durch’s Gebälk. „Was ist das?“, flüsterte Jan mit zitternder Stimme. Sein Kumpel konnte ihm in diesem Moment aber gar nicht antworten, denn die Angst hatte sich als dicker Kloß in seinem Hals festgesetzt. Langsam öffneten sich Maxi’s steife Finger, die das Messer bis jetzt fest umklammert gehalten hatten und ließen los. Jan, der merkte, dass das Messer nun allein in seiner Hand ruhte, umschloss es noch härter mit der Hand.

Im nächsten Moment entfuhr Maxi ein gellender Schrei, der seinem Körper einen solchen Adrenalinschub verpasste, dass er sich reflexartig aufbäumte und die Flucht ergriff. Er rannte Richtung Leiter, schnappte sich die oberste Sprosse und war so schnell verschwunden, dass Jan gar nicht realisierte, was geschehen war. Als er dann aber merkte, dass er allein war, überkam auch ihn die Panik und er legte eine nicht weniger spektakuläre Flucht hin. Auf der Leiter vergaß er plötzlich seine Höhenangst und sprang nach zwei Dritteln auf den rettenden Boden, eilte zum nächsten Fenster, sprang hinaus und war schneller durch den Zaun geschlüpft, als er Maxi rufen konnte. Der rannte einige Meter voraus in Richtung Kirche und wagte es gar nicht, sich umzudrehen.

Erst auf den Stufen, die zur Kirche hinaufführten, machte er halt und drehte sich um, als auch schon Jan angelaufen kam. Die beiden sackten auf den Treppen zusammen, als hätten sie gerade einen Marathon hingelegt. Schwer nach Luft schnappend, versuchte Jan herauszufinden, weshalb Maxi so schlagartig die Flucht ergriffen hatte: „Was war? Hast du was gesehen?“

„Mich…hat was berührt. Was Pelziges“, brachte Maxi gerade so zwischen den unregelmäßigen Atemzügen heraus.

„Was? Echt?“

„Ja.“

„Was war es?“

„Weiß nicht, es hat mich einfach angesprungen.“

Jan wurde ganz blass, denn in diesem Moment gab es für ihn keine rationale Erklärung für „etwas Pelziges auf dem Dachboden der alten Zigarrenfabrik“. Er starrte teilnahmslos vor sich auf die steinernen Stufen und ließ die fantastischsten Einfälle seiner durch Horrorgeschichten und FSK-18-Filmen geprägten Psyche über sich einbrechen. Gnome, Kobolde, Höllenhunde, dreiköpfige Ratten, blutsaugende Fledermäuse. Beim letzten Einfall drehte er sich schnell zu Maxi um und suchte seinen Hals ab. „Was ist?“, wollte dieser wissen, als er merkte, dass er angestarrt wird.

„Wurdest du gebissen? Vielleicht war es eine Fledermaus?“, fragte Jan.

„Quatsch nicht! Das war ein Marder oder so“, versuchte Maxi gegen seinen Kumpel und seine eigenen irrationalen Gedanken zu argumentieren, mit mäßigen Erfolg. Unwillkürlich fasste er sich an den Hals und prüfte seine Hand auf Blut. Jan sah ihn verwundert an. „Da war nur Staub“, rechtfertige er sich, immerhin war es schon peinlich genug, dass er wie ein Mädchen geschrien hatte und davongelaufen war. Sonst war er immer der mutigste aller Jungs und kniff bei keiner Mutprobe, egal, wie dumm oder furchteinflößend sie war. Er musste einen Weg finden, Jan zum Schweigen über diese Sache zu verpflichten. „Wir dürfen keinem erzählen, dass wir da drin waren, okay?“, folgte er dem erstbesten Einfall.
Jan, der sich mittlerweile etwas beruhigt hatte, weil er die Erklärung mit dem Marder für ziemlich plausibel hielt, nickt nur abwesend mit dem Kopf.

„Ehrenwort!“, setzte Maxi fort.

„Ja, ja…“, sagte Jan, als würde er in seiner Gedankenarbeit nicht gestört werden wollen.

„Wir müssen in die Hände spucken!“, legte Maxi nochmal nach.

Ein Versprechen, das mit Spucke besiegelt worden ist, konnte nicht gebrochen werden. Jan sah verwundert auf. Es lag weder in seinem Interesse, jemandem davon zu erzählen, weil er selbst davongelaufen war, noch hielt er es für eine so große Sache, als dass derart drastische Maßnahmen erforderlich waren. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden von etwas davongelaufen waren. Ein Spucke-Versprechen kam eigentlich nur in besonderen Ausnahmefällen zum Einsatz, um jemanden zum Schweigen zu verpflichten.

Dennoch, als er sah, wie ernst Maxi dreinschaute und sich tatsächlich in die Hand spuckte, verstand er, worum es ging. Da er seinen Kumpel nicht in die Pfanne hauen wollte, spuckte auch er sich in die Hand. Dann schüttelten sie mit zeremonieller Ernsthaftigkeit die Hand des anderen. „Nur ein doofer Marder“, wiederholte Maxi erneut seine Theorie, nachdem der Handschlag getan war, wie um es nochmal ins Gedächtnis von Jan einzuprägen. „Oder eine Katze“, ergänzte Jan. Und damit war die Sache abgehakt. Allerdings hatte Jan noch eine Überraschung. Er schob die Hand in seine rechte Hosentasche, griff nach etwas und hob es triumphierend in die Höhe.

„Das Messer!“, bemerkte Maxi aufgeregt.

„Ich hab’s einfach mit“, verkündete Jan stolz und klappte es auf.

Im Tageslicht war es noch beindruckender. Es war zwar nur ein einfaches Klappmesser mit grünlichem Griff, der deutliche Abnutzungsspuren aufwies und einer mittleren Klingenlänge von gut 6 oder 7 cm, aber es stammte aus einer alten Truhe, die sie auf einem staubigen Dachboden gefunden hatten. Es war also im wahrsten Sinne des Wortes ihre Beute.

Jan fuchtelte damit in der Luft rum und testete die Schärfe der Klinge, indem er einen Faden von seinem Pullover schnitt. „Cool“, rief Maxi, der jetzt wieder voll auflebte und sprang auf. „Komm wir gehen ins Schulgebüsch und ritzen unsere Namen in die Bäume“, schlug er aufgeregt vor.

„Au ja!“, stimme Jan zu , “aber das Messer gehört mir.“

„Ja, ja, aber ich darf auch mal.“

„Na gut, aber ich nehm es mit nach Hause.“

„Okay…“

Und so trotteten die beiden los, vermieden es aber um jeden Preis, nochmal in die Nähe der Zigarrenfabrik zu gelangen. Neben dem Messer in seiner Tasche, hatte Jan auch die Hagebutten entdeckt, die er bei all dem Trubel ganz vergessen hatte. Zwar wollte er sie Maxi als Vergeltungsaktion für den Dreckklumpen in den Nacken schmieren, doch die Demütigung von vorhin war besser gewesen als jeder vorhersehbare Jungenstreich. Heimlich ließ er sie auf dem Weg zur Schule auf den Boden fallen und vergab seinem Kumpel.

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Von Lukas Böhl

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