Reset Your Brain

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Sieh sie dir doch an. Natürlich sind wir hier richtig!“

„Und du meinst, das ist eine gute Idee?“

„Hey, vertrau mir. Ist doch nichts dabei.“

Sie folgten dem Menschenstrom die dunkle Gasse entlang, in der ein unangenehmer, alles einnehmender Geruch von menschlichen Ausscheidungen in der Luft lag.

„Riechst du das? Das ist ja widerlich!“

„Entspann dich, Mann! Sowas holt man eben nicht mal schnell im Supermarkt. Außerdem heißt es, das sei eine ganz normale Nebenwirkung.“

Ein paar dustere, fast leblos wirkende Gestalten marschierten an ihnen vorbei, aus der Richtung kommend, in die sie gingen.

„Mann, die sehen echt übel aus. Lass uns lieber umdrehen.“

„Pssst! Halt die Klappe! Dafür sind wir schon viel zu weit gegangen!“

„Ich hab darüber nachgedacht, vielleicht ist mein Leben gar nicht so schlecht. Ich brauche das Zeug gar nicht wirklich.“

„Hey! Du lagst mir über Wochen mit deinen beschissenen Sorgen im Ohr und hast mich förmlich darum angefleht, dass ich dich hierherbringe, also halt jetzt verdammt nochmal dein Maul!“

„Ok, ok, hast ja recht…“

Die Gasse wurde zusehends schmaler, der Strom der Leute nahm ab, doch die, denen sie jetzt begegneten, waren ihrem Aussehen nach zu urteilen auf dem Weg sich ihr eigenes Grab zu schaufeln, um nach einer letzten Kraftanstrengung für immer darin einzuschlafen. Immer wieder passierten sie weitere, noch dunklere Gassen, die von der Hauptgasse aus abgingen und wiederum in noch viel kleinere und dunklere Abzweigungen führten. Knapp über Augenhöhe waren kleine Wegweiser angebracht, die mit so verlockenden Bezeichnungen wie „Lebenselixier“, „Das große Vergessen“, „Wiedergeburt“, aber auch ganz pragmatischen Dingen wie „Ein neuer Name“ immer wieder einige der vor ihnen laufenden Menschen vom Hauptweg abbrachten.

„Hier bekommt man ja alles…“

„…oder nichts!“

„Wie sind die Preise…“

„Psssst! Wirst du wohl still sein!“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Hier fragt man nicht nach dem Preis. Du bezahlst ihn einfach, wenn du an der Reihe bist! Verstanden?“

„Ja, ja, und jetzt lass mich los!“

Sie gingen weiter, bis sie nicht mal mehr die eigene Hand vor den Augen sehen konnten. So weit hinten begegnete man nur noch sehr selten einer menschlichen Seele und das, was ab und an wie ein Schatten an der Wand an ihnen vorbeihuschte, hatte diese Bezeichnung ohnehin nicht mehr verdient. Irgendwann waren sie alleine und selbst wenn noch jemand anderes dort gewesen wäre, so hätten sie ihn vor lauter Finsternis nicht gesehen. Noch lange folgten sie der Gasse, die irgendwann so eng wurde, dass sie seitwärts hindurchgehen mussten. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichten sie endlich ihr Ziel. Eine unscheinbare kleine Tür, nicht viel breiter als ein aufgeschlagenes Buch, ohne Knauf und Schlüsselloch.

„Da sind wir!“

„Und jetzt, sollen wir klopfen?“

„Keine Ahnung, hier kommt man nur einmal her. Das erste und letzte Mal.“

„Lass uns wieder umkehren!“

„Unmöglich.“

Sie warteten. Stunde um Stunde, so lange, dass sie glaubten, in der Finsternis Gestalten zu sehen, dann Geräusche aus dem Inneren zu hören, ein dumpfes Klopfen und Surren, dann wiederum ein Abschwächen der Finsternis wahrzunehmen. Sie fragten sich, ob es mittlerweile schon Tag geworden war, draußen, wo auch immer das war. Doch jedes Mal besannen sie sich wieder und merkten, dass sie ganz und gar alleine waren, es mucksmäuschenstill war und die Finsternis sich kein bisschen verändert hatte. Sie hörten ihren Angstschweiß auf den Boden fallen, hörten wie die Tropfen die Luftmoleküle zur Seite schoben und auf dem Boden zerbarsten.

„Was für ein merkwürdiger Ort!“

Stille. Die Worte hatten einen unheimlichen Nachhall, der wie ein Mensch davon zu laufen schien, mit schweren Tritten. Sie beschlossen, nicht mehr zu sprechen und nicht zu denken. Doch dann hörten sie ihren Atem, so laut wie ein Orkan, der über flaches Land fegt und alles mit sich reißt. Mit einem langgezogenen Säuseln schien auch er das Weite zu suchen, davon zu laufen, Hauptsache, weit weg von diesem Ort.

Die Luft wurde dünner. Sie mussten beide husten, bekamen nur noch schlecht Luft. Das Echo der ruckartig ausgestoßenen Luft klang wie ein Schrei, der sich von ihnen fortbewegte. Ein kalter Schauer lief ihnen über den Rücken und es schien nur noch einen Ausweg zu geben: Die Tür.

Mit aller Gewalt stürmten sie darauf zu und erwarteten, jeden Moment heftig zurückgestoßen zu werden, als sie sich zu ihrer großen Überraschung wie von Geisterhand öffnete und sie beide heftig zu Boden stürzten.

Da war Licht, als sie wieder zu sich kamen. Etwas benommen von dem Aufprall sahen sie auf. Eine einzige Glühbirne warf ihr kümmerliches Licht in dieselbe schwarze Finsternis, die sie vorhin bereits umgeben hatte und kämpfte beharrlich dagegen an. Darunter stand ein altes Holztischlein mit vier Stühlen, an jeder Seite einer, verstaubt und modrig.

„Wo sind wir?!

„Ich weiß es nicht.“

„Sieh doch!“

Auf den Stühlen begannen sich vier weiße Gestalten zu materialisieren. Zuerst erschienen vier Paar Füße unter dem Tisch, dann die Beine, der Torso und schließlich der Kopf. Doch ihnen fehlte das Aussehen, sie waren wie Puppen, leblos, ohne Gesichtszüge, ohne Menschlichkeit. Ihre Entwicklung war noch nicht abgeschlossen, denn plötzlich materialisierten sich lange bunte Gewänder an ihnen, in rot, weiß, blau und schwarz, gefolgt von langen weißen Bärten und schwarzen, knopfähnlichen Augen, mit denen sie sich gespenstisch ansahen.

„W-w-w-as ist das?“

„Pssst! Vielleicht sehen sie uns ja nicht. Oh mein Gott!“

Sie machten einen Schritt zur Seite und bemerkten, dass wenn sie die Perspektive änderten, die Gestalten entweder riesengroß oder winzig klein waren. Sie verharrten vor lauter Schock in der Position, aus der die vier Gestalten riesig wie Hochhäuser erschienen. Auf einmal ertönte aus vier riesigen Mündern zugleich: „Was wünscht ihr?“ Sie waren so mächtig, dass der Nachhall die beiden umhaute und das Echo noch lange im Raum in Form eines lauten Dröhnens zu spüren war.

„Na los, sag es ihnen!“

„Ich bin gekommen, um…“

Er konnte nicht weitersprechen, das dröhnende Geräusch erstickte ihm die Stimme, er musste sich die Ohren zuhalten und war kurz davor, sich zu übergeben. Dann aber begannen die vier Gestalten wieder zu sprechen: „Was du suchst, sollst du erhalten.“ Das Dröhnen wurde lauter, immer lauter, bis er die Augen schließen musste. Alles drehte sich, ihm wurde schlecht und er musste sich übergeben. Dann war es still.

Im nächsten Moment liefen die beiden eine belebte Einkaufsstraße entlang, langsam kehrte ihr Sehvermögen wieder zurück. Die Geräusche sonderten sich wieder von einander ab und waren endlich wieder deutlich auszumachen. Sie sahen sich an und trennten sich plötzlich wortlos voneinander, ohne dem anderen nochmal nachzusehen.

Ein dumpfes Gefühl der Glückseligkeit machte sich in ihm breit, als er die Straße entlanglief und die Leute beobachtete, bei… Ja, was machten sie eigentlich? Was machte er hier? Wer war er? Mit einem Mal merkte er, wie er gar nichts mehr wusste und vergaß dann selbst das. Da gaben seine Beine nach und er fiel hin.

Er konnte nicht mehr laufen, sich nicht daran erinnern, wie es ging, hatte nicht ausreichend Muskelkraft, sich aufzuraffen. Und so weinte er bitterlich, wie ein kleines Kind, das vom Fahrrad gestürzt war. Aus der Menge, die sich mittlerweile um ihn gebildet hatte, trat eine Frau und schrie ihn verzweifelt an: „Schatz, was ist los mit dir?“ Es war zu spät, er hatte den Preis bereits gezahlt.

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Von Lukas Böhl

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