Nachtfahrt

Du hast drei Plätze freigelassen. Das Handy blieb zuhause liegen, das Radio hast du ausgeschaltet. Heute Nacht willst du nicht deinen Körper von A nach B befördern, sondern deinen Verstand beruhigen. Dabei ist dir jede Abzweigung willkommen, die einen Umweg rechtfertigt. Jede Straße ein Fluchtweg. Hauptsache, rote Ampeln vermeiden, denn Stillstand bedeutet mehr Geistesverbrauch. Ein Industriegebiet, du drehst auf 70 hoch. Keiner da, um es zu bezeugen. Dann eine Ortschaft, in der sich die Leute hinter ihren Rollläden abgeschottet haben. Niemand sieht den nächtlichen Fahrer. Nur ein Schild, das eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 22 bis 6 Uhr verkündet, nimmt deine Existenz wahr. Zu dieser Zeit verändert die Straße ihr Antlitz, sie ist nicht dieselbe wie am Tage. Und das kann man auch von den wenigen Autofahren sagen, die noch unterwegs sind. Ihre Weltsicht auf die Windschutzscheibe beschränkt. Und wenn sie immer nur geradeaus fahren, kann ihr Gewissen sie nie an einem Punkt festpinnen. Die Hände lenken, die Hände schalten. Du beobachtest dich selbst aus der Ich-Perspektive. Siehst, wie du andere Nachtfahrer kurz im Licht der Scheinwerfer ansiehst und vergisst. Ihre Gesichter verblassen wie die Silhouetten der Berge in der Dunkelheit. Dann bist du eine ganze Weile alleine. Erst in der Stadt begegnet dir eine Streife. Kurz schlägt dein Herz schneller. Doch sie fahren weiter und schon bald darauf biegst du in deine Zielstraße ab. Das Garagentor hast du offengelassen, fährst direkt hinein. Ein paar Minuten sitzt du im Dunkeln und genießt die Stille. Dein Verstand ist noch nicht angekommen. Und bevor er aufkreuzt, gehst du nach oben in die Wohnung. Im Bett hörst du schon die Vögel zwitschern. Beim ersten Sonnenstrahl am Horizont schläfst du ein.

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Von Lukas Böhl

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