Kapitän Zukunft

Eines Abends saß ich auf der Parkbank am Dorfrand und sah hinauf in den Himmel. Ich wünschte mich zu ihnen, dort hoch, weit weg von all dem. Weder der Alkohol, noch das Fernsehen, noch meine Arbeit hatten mich von meiner pressenden Ungeduld ablenken können. Diese Dinge können die Zeit verkürzen oder sie dehnen oder sie einen vergessen lassen, aber was sie nicht können, ist, die Zukunft vorwegzunehmen.

Ich hielt es nicht aus, nicht zu wissen, wer ich in 30 oder 40 Jahren sein würde. Von all den Problemen, mit denen sich die Menschheit in den letzten 100.000 Jahren an den Nachthimmel gewandt hatte, war meines wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Nicht dringend genug, um eine Lösung in Form einer Eingebung zu provozieren. 

Warum ich eigentlich hier war, hatte ich über meine Gedanken fast vergessen. Dort gab es einen Ort, unten in der Stadt, von dem sie sagten, dass man dort warten solle. An genau diesem Tag, in genau einer Stunde. Ich hatte es in einem Forum gelesen, das so tief in den Weiten des Internets verborgen lag, dass ich ein Jahr danach hatte suchen müssen.

Nun war es so weit. Alles, was ich tun musste, war diesem Feldweg zu folgen, den alten Eselspfad durch den Wald runter in die Stadt nehmen und in genau einer Stunde am Treffpunkt auf ihn warten. Sein Name war Kapitän Zukunft. Zumindest den Gerüchten zufolge. Es war ja noch keiner zurückgekehrt.

Fünf vor schlug ich an den Koordinaten auf, die ich ins Handy eingegeben hatte. Es war eine Mauer, die nach Urin und nassen Backsteinen roch. Ich stellte mich neben eine große Pfütze und sah die dunkle Straße entlang. In diesem Teil der Stadt leuchteten die Straßenlaternen nicht die ganze Nacht. Ich glaubte Schritte zu hören und stellte die Ohren auf. Doch es war nur mein Herzschlag, der mit einem enormen Hall gegen meinen Brustkorb hämmerte. Die ganze Straße schien zu pulsieren.

Dann war da wieder ein Geräusch, aber dieses Mal bildete ich es mir nicht ein. Es waren die Reifen eines großen Fahrzeuges, die über die Straße rollten. Die Lichter waren ausgeschaltet, es näherte sich mir von rechts. Plötzlich stand ein heruntergekommener roter Van vor mir. Der Rost fraß von unten den Lack ab, in der Schiebetür klaffte ein faustgroßes Loch. Die Scheiben der Fahrerkabine waren schwarz getönt, der Laderaum war blickdicht. 

Allein meine Neugierde unterdrückte den aufkommenden Fluchtreflex. Wie festgewurzelt blieb ich stehen und starrte durch das Beifahrerfenster in den schwarzen Innenraum. Ich stellte mir vor, wie die Person dahinter eine Pistole auf mich richtete. In diesem Moment sprang die Tür auf, ich machte einen Schritt zurück. Mit einem quietschenden Geräusch schnellte sie auf, wollte für einen Moment zurückspringen und rastete schließlich ein. Nun konnte ich die Silhouette einer Person erkennen, deren Gesicht auf mich gerichtet war.

„Kapitän Zukunft, mein Name“, sagte der Fahrer.

Ich wollte dableiben, aber er insistierte.

„Die Zukunft ist nicht glamourös.“

„Aber der Wagen“, erwiderte ich.

„Das Gefährt passt sich den Insassen an.“

Mit einem unguten Gefühl stieg ich ein. Der Kapitän war hässlich und alt. In seinem Gesicht klafften mehr Falten wie es Gassen in dieser Stadt gab. Sie waren genauso tief und angsteinflößend. Sein langes Haar, das an manchen stellen die graue Farbe durchblicken ließ, war bunt wie ein Regenbogen. Er hatte es zu einem Zopf unter seiner blauen Baseballcap zusammengebunden. Die ranzige Lederjacke roch nach Frittierfett und erkaltetem Rauch. Darunter trug er ein löchriges Unterhemd, dessen weiße Zipfel auf der braunen Cordhose auflagen.

Der Kapitän war nicht der einzige Insasse. Als ich den Kopf drehte, erkannte ich einige Gestalten, die teils auf den Boden starrten, teils geradeaus. Mir wurde befohlen, nach hinten zu gehen, es würden noch mehr kommen. Die Seitentür klemme, daher mussten wir vorne einsteigen. Durch die Lücke zwischen Fahrer- und Beifahrersitz quetschte ich mich in den Laderaum und nahm zwischen den anderen Platz auf einer metallenen Bank, die sich ordentlich durchbog, als ich mich hinsetzte.

Meine Mitfahrer blickten kurz auf, wandten dann aber den Blick schnell wieder ab. Es waren triste, gesichtslose Gestalten. Allmählich beschlich mich das Gefühl, in einem Junkie-Taxi zu sitzen. Ziel: die nächste Opiumhöhle. Dann rollte der Wagen los. Es gab hier hinten keine Möglichkeit nach draußen zu sehen. Da die Scheinwerfer ausgeschaltet waren, dominierte die Dunkelheit. Der Kapitän sprach nicht viel, wir noch weniger. 

Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, wir würden abheben. Tatsächlich konnte ich jetzt, wenn ich nach vorn schaute, durch die Frontscheibe den Sternenhimmel sehen. Es ging aufwärts. Die Zeit schien still zu stehen, der Raum krümmte sich in bunten Farben. Der Wind blies noch einige Rumtreiber zu uns herein. Wir nahmen sie alle herzlich auf, denn jeder hier wusste, die Zukunft ist eine einsame Niemandslandstraße.

Bald war die Vergangenheit verloren. Es dauerte noch lange, bis wir die Gegenwart hinter uns gelassen hatten und in Richtung Zukunft abbogen. Wir waren gleichermaßen melancholisch. Manche rauchten, manche zerkauten ihre Zigaretten wie Kaugummi. Einer zermahlte sich die Zähne zu Sand, andere waren irgendwo anders. Unser Schicksal lag in den Händen des Kapitäns. Wir mussten ihm vertrauen. Es war das Los verlorener Seelen.

Desto näher wir der Zukunft kamen, desto größer wurden die Turbulenzen. Ein besonders rostiges Stück des Bodens verabschiedete sich und legte eine unendlich tiefe Dunkelheit frei. Wir blickten hinab, als würden wir in uns hineinsehen. Was wir sahen, waren Zweifel. Obwohl wir alle sie fühlten, sprach nur einer sie aus.

Er sagte: „Scheiß auf die Zukunft. Sie ist nur eine Illusion!“

Da wurde er durch das Loch gesogen und verschwand.

„Der Weg in die Zukunft trübt Herz und Geist. Doch wer leugnet, büßt“, kommentierte der Kapitän den Verlust.

Wir anderen übten uns in Geduld und sparten uns die Worte auf, bis sie wieder Sinn machen würden. 

Nach unzähligen Tagen erreichten wir die Sehnsuchtsküste im gedimmten Licht der Plejaden. Wir waren wie Kinder, aufgeregt und gleichzeitig verängstigt. Als wir ausstiegen, drückte uns die Schwere der Erkenntnis zu Boden. Es war nicht, was wir zu verstehen gelernt hatten. Es war einfach da, von jetzt auf gleich.

Manche wurden verrückt über den Gedanken, nicht in die Zukunft gelebt zu haben, andere vergaßen sich selbst. Und Kapitän Zukunft? Er war zur Gegenwart geworden. Keiner erkannte ihn wieder. Keiner war mehr er selbst. Da klaffte ein Loch in einem jeden. Auch wir hatten die Zeit nicht überlisten können.

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Von Lukas Böhl

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