Heute fährt die 9 bis in den Himmel

An jenem Abend war es schon nach 3 Uhr, als ich am Hermannplatz zustieg. Meine Freunde waren mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Für mich war der Bus die schnellste Option. Der Busfahrer sah erschöpft aus. Ich grüßte, aber bekam keine Antwort. Konnte es ihm nicht verübeln um diese Uhrzeit."

Meine Augen mussten sich erst an das grelle Licht im Inneren gewöhnen, bevor ich etwas erkennen konnte. Vorne im Vierersitz saß eine Frau mit großen Einkaufstaschen, die in einer fremdklingenden Sprache telefonierte und mir einen abschätzenden Blick zuwarf, als ich vorbeilief. Ganz hinten beanspruchten zwei Jugendliche die letzte Reihe und hörten laut Musik.

Ich setzte mich hinter die mittleren Bustüren. Da ich keine Kopfhörer dabei hatte, musste ich die Beschallung von beiden Seiten ertragen. Ich schaute aus dem Fenster, hinaus auf die sterbende Nacht, die sich schon langsam auf ihre Wiedergeburt vorbereitete. Bald würden die ersten Jogger auf dem Gehweg zu sehen sein.

Mit dem Kopf ans Fenster gelehnt, versuchte ich, mich nicht von meinem Schlafdruck überwältigen zu lassen. Selbst die hämmernde  Musik hinter mir klang jetzt wie ein Einschlaflied. An der übernächsten Haltestelle stieg die Frau mit ihren vielen Taschen aus. Es war beeindruckend, wie sie alle gleichzeitig tragen konnte. Die Jugendlichen folgten ihr drei Stationen später, und so war ich allein, mit noch acht Haltestellen vor mir. Ich muss kurz weggenickt sein, denn zwei Stimmen rissen mich wieder aus einem wunderbaren Traum heraus.

„Ist das die Linie 9?“, hörte ich jemanden sagen.

„Das ist der Bus 9 nach Himmern“, erwiderte jemand genervt.

„Himmern?“

„Himmern!“

„Ist das die Linie 9, die …“

Der andere unterbrach ihn schroff: „Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht?!“

„Also gut, also gut. Dann steige ich eben ein.“

Ich setzte mich aufrecht hin, um den Zugestiegenen besser sehen zu können. Es war ein alter Mann mit einem langen grünen Mantel und einem hölzernen Gehstock. Auf eine gewisse Weise sah er verwahrlost aus, doch seine Haare und sein Bart waren frisch geschnitten. Unsere Blicke kreuzten sich kurz, woraufhin ich mich sofort wieder abwandte.

Während ich aus dem Fenster starrte, konnte ich spüren, dass mich der Mann immer noch beäugte. Außerdem sah ich im Augenwinkel, dass er auf mich zugelaufen kam. Er setzte sich ausgerechnet in das Abteil neben mir. Als er auf seinem Platz angekommen war, fuhr der Bus los. Ich konnte fühlen, dass ich beobachtet wurde. Erst versuchte ich es zu ignorieren, doch in der Spiegelung des Fensters konnte ich sehen, dass der alte Mann mich unverfroren anstarrte.

Als es zu lang wurde, um zufällig zu sein, drehte ich mich zu ihm. Er schaute mir direkt in die Augen. Sein Blick war durchdringend. Gerade als ich ihn fragen wollte, was sein Problem sei, begann er zu sprechen: „Du bist im falschen Bus, Junge!“

„Das ist die 9, da steht’s“, sagte ich und zeigte auf die digitale Anzeigetafel an der Decke. „Vielleicht sind Sie ja im falschen Bus, aber ich bin hier genau richtig.“

„Aber du solltest nicht hier sein.“

„Ein Verrückter“, dachte ich nur. Da ich zu müde für so eine Konversation war, drehte ich den Kopf wieder zum Fenster, verschränkte die Arme und tat so, als wollte ich schlafen. Der alte Mann aber schien noch nicht fertig zu sein.

„Das ist der falsche Bus. Hörst du nicht?“

Ich gab ein Grummeln von mir, das ihm zu verstehen geben sollte, dass ich erstens im richtigen Bus saß und zweitens keine Lust hatte, mich mit ihm zu unterhalten.

„Du solltest jetzt aussteigen.“

Dann hörte ich, wie der alte Mann mehrmals energisch auf den Stopp-Knopf drückte. Ich konnte von vorne das genervte Schnaufen des Busfahrers hören. Plötzlich fing der Alte an zu schreien: „Busfahrer, der junge Mann will aussteigen. Busfahrer, bitte anhalten!“

Am liebsten wäre ich in diesem Moment im Sitz versunken. Ich öffnete die Augen und sah den gereizten Blick des Busfahrers im Rückspiegel.

„Nächster Halt Dobelstraße. Da kann er raus!“, brüllte der Busfahrer.

Ich wurde stinksauer, stand auf und trat in den Mittelgang. Was ihm einfiel, schimpfte ich auf den alten Mann ein. Doch der lachte nur in sich hinein. Da ging hinter mir die Tür auf und er zeigte nach draußen.

„Deine Haltestelle. Du bist jung und kannst nach Hause laufen.“

Jetzt platzte mir endgültig der Kragen. Ich schrie den Alten an, was er sich eigentlich erlaubte. Doch ich wurde jäh von einem markerschütternden Gebrüll des Busfahrers unterbrochen.

„Mach keinen Ärger da hinten, oder ich prügel dich windelweich“, drohte er mir.

Sein Blick im Spiegel verriet mir, dass der 150-Kilo-Mann es ernst meinte. Meine Augen wanderten für einen Moment zwischen Busfahrer und dem alten Mann hin und her. Dann atmete ich tief ein und beschloss, es dabei zu belassen. Bis nach Hause waren es ohnehin nur noch drei Stationen. Ich schluckte meine Wut hinunter und verließ den Bus, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen.

Die Türen schlossen direkt hinter mir, aber ich sah beim Wegfahren noch, wie der alte Mann mir glücklich zuwinkte. „So ein Spinner“, dachte ich und spuckte auf den Boden. Dann lief ich dem Bus hinterher. An der nächsten Kreuzung verlor ich ihn aus den Augen. Es war kalt, es hatte geregnet, der Asphalt war nass. Die Lichter waren abseits der Hauptstraße bereits ausgeschaltet. Ich verfluchte den alten Mann und wünschte mich zurück in den Bus.

Nachdem ich bereits eine Weile gelaufen war, hörte ich plötzlich Sirenen. Dann raste ein Polizeiauto an mir vorbei. Kurze Zeit später zwei Krankenwagen, Feuerwehr und noch mehr Polizei. Ich zog die Kapuze ins Gesicht und ging schneller. Als ich in die Straße einbog, in der ich hätte aussteigen wollen, sah ich das Blaulicht. Eine Armada von Einsatzfahrzeugen stand vor und auf der Brücke, die über den Fluss führte. Polizisten und Feuerwehrmänner rannten hektisch hin und her.

Während ich näher kam, konnte ich erkennen, dass das steinerne Geländer der Brücke durchbrochen war. Es sah aus, als wäre etwas Großes mit hoher Geschwindigkeit hindurchgebrochen. Plötzlich schoss mir ein Gedanke in den Kopf. Ich rannte los. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. An der Brücke wollte mich ein Polizist aufhalten, doch ich wich ihm geschickt aus und sprintete weiter bis zur Durchbruchstelle. Meine Angst wurde bestätigt. Dort lag die 9, halb versenkt im Wasser.

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Von Lukas Böhl

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