Der Mann im Wind

Der Herbst kam früh in jenem Jahr. Und er brach über das Land herein mit einer Kälte, die den Winter vorwegnahm."

Dazu regnete es tagelang pausenlos. Ein kühler Wind komplettierte das Schmuddelwetter.

Trotz der Witterung ging ich eines Nachmittags spazieren. Die feucht-stickige Luft hatte mich aus der Wohnung getrieben.

Es regnete noch leicht, doch mit Schirm und Jacke konnte man es draußen aushalten. Es zog mich raus auf die Felder, wo der Wind kräftig in meinen Schirm blies.

Er zog daran, stülpte ihn um und versuchte, ihn mir zu entreißen. Doch ich leistete entschlossen Widerstand.

Plötzlich ergriff mich eine starke Windböe von hinten und drückte gewaltig gegen meinen Schirm. Ich war so damit beschäftigt, ihn festzuhalten, dass ich gar nicht merkte, wie ich allmählich den Kontakt zum Boden verlor.

Zentimeter um Zentimeter hob ich ab. Als ich realisierte, was geschah, war es bereits zu spät. Der Wind trug mich davon. Zunächst schwebte ich einige Meter vorwärts über den Feldweg, bis mich eine weitere Böe erfasste und weiter in die Höhe trug.

Ich klammerte mich an meinem Regenschirm fest wie an einer Rettungsleine. Unten ging eine Frau mit einem Hund. Ich rief um Hilfe. Sie sah mich und winkte, erwiderte mein Rufen. Nur war ich schon zu hoch, um sie noch zu verstehen.

In diesem Moment nahm ich die Stille wahr. Das Rauschen der Bundesstraße, das Rascheln der Blätter, das Betonwerk hinter den Gleisen – nichts mehr war zu hören. Da war nur der Wind wie ein weißes Rauschen.

Passanten starrten hilflos nach oben, winkten und gestikulierten. Aber kein Wort drang zu mir vor, während ich weiter emporstieg. Bald sah ich die Stadt wie ein Miniaturabbild ihrer selbst. Menschen konnte ich nicht mehr ausmachen. Nur Autos wie Punkte auf einer Karte.

Es wurde immer kälter. Meine Finger versteiften. Der Regenschirm entglitt mir. Ich dachte, das war’s. Doch der Wind fing mich auf und trug mich höher gen Himmel.

Nun war ich sicher, dass ich höher flog als ein Passagierflugzeug. Nicht der Fall würde mich töten, sondern die eisige Kälte.

Ich zitterte bereits am ganzen Körper, als ich mit einem Mal ein Geräusch vernahm. Ein Flugzeug näherte sich. Menschen starrten ungläubig aus dem Fenster auf den Mann im Wind.

Ein Kind winkte. Ich hob die steife Hand zum Gruß. Dann waren sie wieder weg. Und ich blieb allein zurück. Bald wurde ich von einer riesigen Wolkenfront verschluckt. Alles war grau, meine Augen suchten vergebens nach Orientierung.

Ich hörte noch ein Grummeln, ein Donnern. Dann fuhr ich wie ein Blitz vom Himmel herab. Im Vorgarten meines kleinen Häuschens schlug ich ein. Die Erde um mich herum dampfte vom Aufprall und der Hitze.

Als sich meine Sicht klärte, sah ich meinen Nachbarn am Zaun stehen. Sein Hund pinkelte durch die Staketen. Er schüttelte den Kopf und sagte zu seiner Bulldogge: „Komm, Brutus!“ Die beiden verschwanden in ihrer Hälfte des Reihenhauses.

Als ich an mir herunterschaute, stellte ich fest, dass ich nackt war. Ich raffte mich auf, holte den Ersatzschlüssel aus der Steinattrappe im Blumenkübel neben der Tür und ging ins Haus.

Ich ging die Treppe nach oben, legte mich in die Badewanne und ließ heißes Wasser einlaufen. Weiter ist nichts passiert an diesem Tag.

Veröffentlicht am
Kategorisiert als Geschriebenes

Von Lukas Böhl

Hallo, mein Name ist Lukas Böhl. Ich bin der Autor hinter dem Sinnblock. Falls du mehr über mich erfahren willst, schau mal hier vorbei. Falls du Fragen oder Anregungen zur Seite hast, schreib mir einfach! :)