Der Pakt

Die vier Jungs waren in dieser Kneipe großgeworden. Jeder Tisch konnte die Geschichte eines versoffenen, lauten, pubertären Abends erzählen. Die Wirtin hatte ihnen schon Schnaps ausgeschenkt als sie noch 14 waren. Und als sie ihre 18 Geburtstage dort feierten, war sie ziemlich verdutzt, das wahre Alter der Freunde herauszufinden. Jetzt, da alle auf Mitte 20 zusteuerten oder sie schon hinter sich gelassen hatte, war alles anders. Die Kneipe nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, die Sitze abgenutzt, die Wände grau vom Nikotin, die Menschen träge vom Alkohol.

Waren es nur sie oder sah das früher alles lebendiger aus? Sie wussten es nicht. Wie auch, sie kamen allenfalls noch einmal im Monat her, wenn die Zeit es erlaubte, wenn nicht einer zu müde war oder mit seiner Freundin unterwegs oder auf irgendeiner Familienfeier. Die Verantwortung hatte schließlich auch sie eingeholt. Jetzt musste man fit für die Arbeit sein oder für einfache Dinge wie Wäschewaschen, Essenkochen oder das Haus putzen.

Heute war einer der seltenen Abende, an denen keiner abgesagt hatte. Fabi und Axel hockten auf der Bank in der Raucherecke, tranken ihr erstes Bier, Axel bereits an der zweiten Kippe. Das Gespräch drehte sich um früher, keinesfalls um das öde, immer gleiche Jetzt. Axel aschte die Zigarette ab und sah sich um.

„Weißt du noch“, sagte er zu Fabi gewandt, „wie wir dort an der Theke saßen und die Leute gegenüber beleidigt haben?“ Fabi sah zum Tresen rüber, an dessen Seite eine Sitzbank für zwei Personen angebracht war.
„Hahaha, auf jeden Fall. Das war ein Abend! Du bist ja abgehauen. Aber ich bin noch geblieben, bis die Lichter ausgegangen sind.“
„Wie bist du da eigentlich heimgekommen?“
„Weißt du das nicht? Daniel hat mich heimgefahren.“
„Ach so, was ist wohl aus dem geworden?“
„Keine Ahnung. Maxi hat behauptet, er arbeitet jetzt in so nem Sterneladen.“
„Echt? Krass, wohin es die Leute verschlägt.“
„Wir sind noch hier.“
„Wer weiß, wie lange noch.“
„Wo sind die nur?“
„Die wollten Kippen holen…vor einer halben Stunde.“
„Haben sich bestimmt noch ein schnelles aus der Flasche gegönnt.“
„Alte Suffköpfe.“
„Und du? Trinkst nicht mehr so viel?“
„Nein, ist ja gar nicht mehr möglich. Wenn ich freitags 5,6 Bier trinke merke ich das noch am Montag.“
„Scheiße, sind wir so alt geworden. Das,“, Axel deutete auf sein Bier, „ist mein erstes Bier seit, keine Ahnung, zwei Wochen oder so. Im Sportheim trinke ich meistens Alkoholfreies.“
„Unglaublich. Da, schau mal, da kommen die zwei Vögel“, sagte Fabi und deutete auf den Eingang der Kneipe, den man durch die Glastür des Raucherbereichs einsehen konnte. Maxi und Tim schlenderten herein und alles an ihnen sagte Alkohol.

„Die haben bestimmt ne Flasche Wodka geköpft, so wie die aussehen.“
Die beiden schoben die Schwenktür zum Raucherbereich auf und blieben plötzlich stehen. Man sah ihnen den Pegel deutlich an. Sie winkten den beiden zu. Die anderen Gäste drehten sich nach ihnen um und lachten.
„Kommt doch her“, brüllte Axel fast schon etwas beschämt. Die beiden folgten seiner Stimme und nahmen nebeneinander Platz.
„Was habt ihr gemacht zur Hölle?“
„Wir waren im Kaufland und haben eingekauft“, sagte Maxi in einem angeheiterten Singsang.
„Und warum hat das so lange gedauert? Euer Bier ist schon ganz warm.“
„Wir hatten ja kaltes Bier im Kaufland“, gestand Tim, der gleich nachdem er es gesagt hatte, die Augen sinken ließ, als hätte er etwas sehr Dummes getan. Die beiden Nachzügler machten sich über ihr stehengelassenes Bier her.

„Jungs, das ist echt schön, euch mal wieder alle zu sehen“, verkündete Axel und hob sein Glas in die Mitte. Alle stießen miteinander ein. Maxi und Tim kippten ihr Bier gleich ganz weg, Fabi und Axel nahmen nur jeweils einen kräftigen Schluck. Die Kellnerin wurde gerufen und nochmal nachbestellt. Vielleicht war es die Konstellation, die Maxi und Tim so anspornte, sich abzuschießen. Als die nächste Runde auf dem Tisch stand, machte Maxi gleich weiter. Fabi sah ihn etwas besorgt an, er wusste um seinen starken Konsum Bescheid.
„Hey man, meinst du nicht, du solltest etwas langsamer machen?“
„Waaas? Das sagst du? Früher hättest du hier jedes Bier auf dem Tisch in unter einer Minute weggekippt.“
„Hahaha, er hat Recht“, stimmte Axel zu.
„Und jetzt ist er brav wie eine Kirchenmaus“, blökte Tim dazwischen.
Fabi konnte das gut wegstecken, er wusste, dass er früher jeden unter den Tisch hätte trinken können, sogar sich selbst.

„Einmal lag er hier unterm Tisch und hat nach mehr verlangt, hahaha“, fiel Maxi plötzlich ein Abend vor 4 oder 5 Jahren wieder ein. Die anderen lachten. Alte Suffgeschichten waren ein starkes Bindeglied in ihrer Freundschaft. Fabi setzte zum Gegenschlag an: „Immerhin bin ich nicht nackt durch Frau Engeles Garten gerannt und hab versucht, meinen Schwanz hinter einem Blumenkübel zu verstecken!“

„Stimmt!“, grölte Axel. Tim lag schon prustend auf dem Tisch, als er sich daran erinnerte.Maxi war in den Garten einer ehemaligen Lehrerin gestiegen und wollte ihr unbedingt ins Blumenbeet kacken. Dazu hatte er sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen ganz ausgezogen. Gerade als er am Pressen war, ging das Licht an und vor lauter Schreck griff er zu einer kleinen Blumenvase und hielt sie sich vor sein bestes Stück. Die anderen hielten sich hinter der Hecke versteckt und brachen in schallendes Gelächter aus. So laut, dass Frau Engele das Fenster öffnete und mit einer Taschenlampe den Garten absuchte. Maxi hatte schnell seine Klamotten gepackt, den Blumenkübel immer noch in der Hand und war mit einem Hechtsprung über die Hecke geflüchtet, wobei der Lichtstrahl gerade noch seinen blanken Hintern erwischt hatte. Frau Engele, völlig außer sich, schrie ihm hinterher: „Du Perverser! Ich ruf die Polizei! Wenn ihr noch einmal in meinen Garten geht…wartet bloß ab! Euch krieg ich noch!“

Man hörte nur noch, wie sie das Fenster zuschlug. Die Jungs nahmen ihre Beine in die Hand und rannten, wie sie noch nie gerannt waren. Einige Minuten später hörte man die Sirenen, aus dem Tal den Berg hinaufflitzen. Die vier Freunde waren in den Wald geflüchtet, kurz vor dem Herzinfarkt vor lauter Lachen und Rennen. Sie retteten sich ins nächste Dorf, wobei ihr Lachen laut durch die Nacht hallte. Schließlich versteckten sie sich in Maxis Garage und trauten sich nicht wieder heraus, ehe der erste Sonnenstrahl durchs Fenster gedrungen war. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen: Perverser überfällt alte Dame, Blumenkübel geklaut. Der ist dann in Maxis Vorgarten gelandet, seine Mutter hatte es nie bemerkt. Man könnte ihn bis heute damit überführen, sollte jemals ein übereifriger Polizeibeamter den Fall neu aufrollen. Spätestens jetzt hatten sie mit ihrem lauten Gelächter die ganze Aufmerksamkeit aller Anwesenden Gäste auf sich gezogen.

„Wie gut, dass das nicht in deinem Führungszeugnis gelandet ist, Alter“, stellte Tim fest, nachdem sich alle wieder etwas gefangen hatten.
„Der Zeitungsartikel hängt immer noch über meinem Bett. Das waren meine 15 Minuten im Rampenlicht.“
„Das war dein nackter Arsch im Scheinwerferlicht einer alten Frau“, ergänzte ihn Axel.
„In der Nacht hat sich zum letzten Mal was geregt in ihrem Höschen.“
„Wahrscheinlich hat sie dich für ihren Mann gehalten.“
„Der ist genauso hässlich wie dein bleicher Arsch, hahaha.“
„Hahaha, sein Arsch hat geleuchtet wie der Mond.“

Die Jungs brauchten eine Weile, um sich von diesem Lacher zu erholen. Wie es oft vorkommt nach solchen Geschichten, war eine peinliche Stille entstanden. Niemand wusste, was er sagen sollte, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Axel sah Maxi an, der sah schnell zur Seite, wobei er Fabis Blick kreuzte, der ihn besorgt anstarrte. Tim sah vor sich auf den Tisch und rauchte. Da riss sie plötzlich das Surren eines Handys aus ihrer Melancholie. Der ganze Tisch vibrierte und jeder sah auf sein Handy. Es war Axels Handy, das vibriert hatte. Er nahm es in die Hand und las angestrengt eine scheinbar sehr lange Nachricht durch. Die anderen tauschten vielsagende Blicke miteinander aus. Nachdem Axel die Nachricht gelesen hatte, sperrte er das Handy und legte es auf den Tisch als wäre nichts gewesen. Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an, doch er wich ihren Blicken aus und starrte ihn sein Bierglas, das er mit beiden Händen umfasste.

Tim war betrunken genug, um sich als Erster hervorzuwagen. „War das deine Freundin?“, wollte er von ihm wissen. Axel sah etwas angepisst aus, als er die Augen hob und zu Tim rübersah. Der wiederum, vom Alkohol in seinem Selbstbewusstsein ohnehin eingeschränkt, sah unterwürfig zur Tischkannte und verstummte. Maxi sah zu Fabi, der sah zu Axel und sagte schließlich: „Bist du immer noch mit dieser Verrückten zusammen?“ Es folgte ein Moment unsäglicher Spannung, so als würde jemand Strom durch die vier Freunde leiten und Blitze aus ihren Augen schießen. Axel sah Fabi herausfordernd an. Nicht jeder hätte das über seine Freundin sagen können, ohne sich eine einzufangen. Doch Fabi kannte er schon so lange, dass er nochmal davonkam. Vielleicht, weil er wusste, dass wenigstens ein bisschen Wahrheit in seiner Aussage steckte.

„Ja, das war sie“, sagte er schließlich, kurz und abgehackt, um den anderen zu signalisieren, dass er nicht darüber reden wollte. Jetzt hatte er das Interesse natürlich erst recht geweckt. Maxi war an der Reihe, dessen Pegel ihm jeglichen Anstand untersagte: „Was will sie denn? Du bist mit deinen Jungs unterwegs. Da braucht sie dir nicht andauernd zu schreiben!“ Axel warf ihm einen strengen Jetzt-reicht-es-Blick zu, der durch Maxis alkoholdurchweichtes Gehirn schoss wie durch ein Sieb. Er erkannte den Ernst der Lage nicht und bestand weiterhin auf seinem Punkt: „Seit du die Alte hast, bist du nicht mehr der alte Axel. Was können wir dafür, wenn sie deine abgeschnittenen Eier mit irgendwelchen Voodoo-Nadeln durchsticht, wenn du unterwegs bist…“

Maxi hatte noch nicht ausgeredet, da stand Axel plötzlich auf und machte eine drohende Bewegung mit seiner rechten Hand. Maxi zuckte zusammen und fiel dabei fast vom Stuhl. Fabi stand auf, um Axel zu besänftigen. Tim redete auf Maxi ein. Als alle wieder saßen, sagte Maxi: „Was denn, stimmt doch?“
„Hey“, brüllte Fabi fast schon über den Tisch, „du kannst nicht einfach seine Freundin beleidigen.“
„Nur, weil du und du“, er zeigte erst auf Fabi, dann auf Tim, „zu feige seid, um etwas zu sagen. Ich sag, was ich will. Axel ist mein Kumpel und wenn ich glaube, dass seine Freundin ihn unterdrückt, dann sage ich das ehrlich raus.“

„Man, ist das dein Ernst? Wir sehen uns nur noch alle paar Monate und jedes Mal fängst du mit deinem Scheiß an. Wenn wir schon ehrlich sind, dann sag ich dir jetzt offen ins Gesicht, dass du ein Alkoholproblem hast!“, konterte Fabi mit erregter Stimme. Maxi wurde rot, er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Schön, dass wir endlich Klartext reden. Jetzt aber die Eier auf den Tisch! Mich nervt dein ständiges Gejammer über deinen scheiß Job wie Sau! Trotzdem halte ich immer die Fresse“, erwiderte dieser wutentbrannt. Fabi sah ihn mit flammender Aggression an, wie sie nur Freunde untereinander empfinden können. „Also gut, Eier auf den Tisch. Jetzt sagen wir uns mal offen die Meinung“, fing er an und sah zwischen den anderen hin und her. Jeder war bereit, sich zu verteidigen und gleichzeitig anzugreifen. Sein Blick blieb auf Tim haften: „Du, wann kriegst du endlich deinen Arsch hoch? Seit dem Abi hängst du rum und hältst dich mit irgendwelchen Aushilfsjobs über Wasser.“ Tim, der sich bis jetzt rausgehalten hatte, sah ihn verdutzt an. Der Alkohol in seinen Venen erschwerte es ihm, die Situation richtig einzuordnen. Plötzlich war er zum Mittelpunkt des Geschehens geworden, alle Blicke waren auf ihn gerichtet. „Jungs, was ist das für eine Scheiße? Fickt euch!“

„Ja, fickt euch!“, pflichtete ihm Maxi bei, „wieso treffen wir uns überhaupt noch, wenn wir uns nichts zu sagen haben. Axel sah sich schweigend in der Runde um, ihn beschäftigte immer noch die Nachricht seiner Freundin. Seine Enthaltung blieb nicht lange unbemerkt. Es war Maxi, der sich wieder auf ihn stürzte: „Und wieso sagst du nichts? Nur, weil du dich mit einer Wahnsinnigen eingelassen hast? Hier geht es gerade um unsere Freundschaft und du hängst dieser Alten hinterher.“
„Was weißt du schon?“, entfuhr es Axel plötzlich, der den Finger hob und auf Maxi zeigte, „was weißt du schon von Verantwortung? Immer wenn es dir zu viel wird, säufst du dich ins Delirium! Ich versuche wenigstens eine echte, menschliche Beziehung aufrechtzuerhalten. Wann hattest du das letzte Mal eine Beziehung? Vor zwei Jahren mit dieser Jana? Seitdem bist du doch son Alki!“
„Wag es nicht über Jana zu reden!“
„Was willst du tun, mir eine reinhauen?“
„Vielleicht werde ich genau das tun“, sagte Maxi und bäumte sich vor Axel auf. Der erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich ihm gegenüber. Er war gut einen halben Kopf größer als Maxi und hätte diesen mit einem Schlag ans andere Ende der Bar befördert.

Ihr Streit war nicht unbemerkt geblieben und jetzt, als die Situation zu eskalieren drohte, stürmte die Kellnerin mit der Geschäftsführerin zu ihrem Tisch. „Jungs!“, rief diese aufgeregt, „jetzt reicht es aber! Wenn ihr euch nicht vertragt, dann regelt das draußen.“ Die Geschäftsführerin kannte sie und versuchte, gut auf sie einzureden: „Ihr kommt schon so lange her, ich will euch wirklich nicht vor die Tür setzen, aber ich muss auch an meine anderen Gäste denken. Was auch immer ihr da habt, lasst es gut sein. Also, vertragt ihr euch oder wollt ihr freiwillig gehen?“ Die Jungs sahen sich um, wirklich alle Augen waren jetzt auf sie gerichtet. Vor lauter Rage hatten sie ganz vergessen, wo sie waren. Sie tauschten einige versöhnende Blicke miteinander aus und nickten schließlich der Geschäftsführerin zu. „Wir vertragen uns“, gab Tim zu verstehen. Die anderen stimmten zu. „Na schön, aber wenn ihr nochmal so rumschreit, war es das letzte Mal“, setzte die Geschäftsführerin nach und verschwand dann wieder nach hinten in die Küche.

Die vier Freunde setzten sich beschämt zurück auf ihre Stühle und schwiegen sich an. Der eine spielte mit der Zigarette, der andere drehte nervös das Glas. Es war Maxi, der als Erster den Mut wieder fasste, etwas zu sagen: „Tut mir leid, Leute, ehrlich. Axel, ich wollte deine Freundin nicht beleidigen. Wirklich, ich will mich entschuldigen. Wir sind noch Freunde, das ist doch viel mehr wert.“ Er streckte Axel die Hand zur Versöhnung hin. Der, immer noch etwas in seinem Stolz angegriffen, vergab seinem Kumpel und schüttelte die dargereichte Hand mit einem versöhnlichen: „Schon gut, Alter. Mir tut es auch leid.“
„Mir tut es auch leid. Maxi, Tim, das war scheiße von mir“, entschuldigte sich Fabi.
„Ja, verdammt, das war Scheiße. Wir sollten uns nicht streiten. Dieser Platz hier sollte für immer unser Rückzugsort sein“, warf Tim ein.
„Richtig“, pflichtete ihm Axel bei, „keine Verurteilung für nichts.“
„Hmm…“, ließ Maxi vernehmen.
„Was hmm?“, fragten ihn sogleich die anderen.
„Habt ihr euch das so vorgestellt?“
„Was vorgestellt?“, wollte Fabi wissen.
„Erwachsensein. Wenn wir ehrlich sind, haben wir gerade nur so reagiert, weil wir die Wahrheit nicht vertragen.“
„Fängst du schon wieder an?“, erwiderte Tim.
„Lass ihn, er hat Recht“, warf Axel ein.
„Er hat wirklich Recht,“ stimmte auch Fabi zu, „ich hasse meinen Job und bin zu feige, es mir einzugestehen.“
„Ja, und ich trinke wirklich zu viel, aber schaffe es nicht, es zu lassen“, gestand Maxi.
Axel seufzte: „Und ich…diese Beziehung macht mich fertig, aber ich kann sie nicht verlassen, versteht ihr? Ich liebe sie…“
„Und ich krieg den Arsch nicht hoch…“, murmelte Tim in sein Bierglas hinein.
„Verdammte Scheiße, Jungs, ich hatte Ideale. Erzählt das dem Maxi von vor vier, fünf Jahren. Der würde sich in Grund und Boden schämen.“
„Erzähl es auch gleich dem Fabi von vor fünf Jahren.“
„Und dem Tim…“
„Und dem Axel…“

Die vier hingen voller Selbstmitleid über ihren Biergläsern und schwelgten in Erinnerungen. Hatten sie sich wirklich verraten? Wann waren sie auf einmal erwachsen geworden?
„Ich hab mir das Erwachsenwerden irgendwie würdevoller vorgestellt“, ließ Fabi seinen Gedanken freien Lauf.
„Ja, mit einer Zeremonie oder so“, fügte Tim hinzu.
„Es passiert einfach, man merkt es nicht mal. Jeder macht so eine große Sache daraus, dabei muss man gar nichts zu tun, außer zu warten“, sagte Maxi.
„Und dann ist man erwachsen und die Jugend ist schlagartig zur Erinnerung geworden“, schloss Fabi seine Gedanken ab.
„Jungs, wir sind 24, 25, was soll das Geschwätz?“, mischte sich plötzlich Axel mit ein, der bis jetzt kein besonderes Interesse an der Konversation gezeigt hatte. „Ihr tut grad so, als würdet ihr morgen unter der Erde liegen.“
„Er hat Recht, er hat wirklich Recht, was sind wir für Loser, wenn wir so reden?“, fragte Maxi aufgeregt in die Runde. „Jetzt können wir noch was ändern! Wir können was ändern. Ihr dürft nur nicht solche Weicheier sein!“
„Ich bin kein Loser“, bemerkte Tim entschlossen.
„Ich auch nicht“, stimmte Fabi zu.
„Wir schließen einen Pakt. Das wird großartig. In zweieinhalb Monaten ist Ostern, bis dahin kriegen wir unser Leben in den Griff. Heute Abend geben wir uns ein Versprechen und bis Ostern setzen wir es um.“

„Was für ein Versprechen?“, wollte Axel wissen, der schon ahnte, worauf das hinauslaufen würde.
Maxi schlug auf den Tisch: „Was wohl? Ich gelobe hiermit, dass ich mein Alkoholproblem in den Griff bekomme.“
Die anderen sahen sich an und nickten zustimmend. Schließlich ergriff Fabi das Wort: „Hiermit gelobe ich, dass ich mir einen neuen Job suchen werde!“
„Und ich“, fing Tim an, „ich gelobe hiermit, dass ich mir eine Ausbildung suchen werde.“
Maxi klopfte ihm auf die Schulter und sah triumphierend zwischen seinen Freunden hin und her. Nur Axel schwieg immer noch. Fabi packte ihn am Arm: „Du musst nicht mitmachen, wenn du nicht willst.“
Axel hob die Augen, in ihm brodelte es. Er hatte sichtlich mit sich zu kämpfen. Maxis Blick ließ nur eine Antwort zu, Tim dagegen sah gleichgültig zufrieden aus. Fabi versuchte Verständnis zu zeigen. Endlich ballte Axel beide Hände zur Faust und presste sie auf den Tisch, als würde er etwas zerbrechen. Dann sah er einen nach dem anderen an und sagte: „Hiermit gelobe ich, dass ich mit einer Freundin Schluss machen werde.“

Maxi war außer sich vor Freude: „Dann ist es beschlossen.“ Er holte sein Handy heraus und zählte irgendetwas. „In genau 70 Tagen treffen wir uns hier, genau an diesem Tisch. Und wir werden unser Leben um 180 Grad gedreht haben. Gebt mir die Hand, Jungs!“ Er streckte seine Hand aus und ballte sie zur Faust. Axel streckte seine rechte Hand aus und umfasste Maxis, Fabi umfasste Axels und Tim schließlich Fabis. Der Pakt war damit rechtsbündig. Jeder hatte sich an die Abmachung zu halten. Sie legten den Gründonnerstag für ihr nächstes Treffen fest und bestellten die nächste Runde, um darauf zu trinken. Den Rest des Abends sprachen sie fast ausschließlich über ihren Deal und wie sie ihn umsetzen wollten. Die Streitigkeiten von vorhin waren längst vergessen. Der Alkohol floss in rauen Mengen, um den Pakt zu besiegeln. Erst um halb 3, als die Geschäftsführerin sie bat, zu gehen, verließen sie die Kneipe, verteilten sich auf zwei Taxis und fuhren nach Hause. Nicht aber, ohne nochmal an die Frist und die Pflichterfüllung ihres Paktes zu erinnern.

Die 70 Tage bis Ostern vergingen wie im Flug. Sie hatten es tatsächlich nicht geschafft, sich davor nochmal zu treffen, weder zu viert noch zu dritt oder zu zweit. Umso größer war die Spannung am Gründonnerstag, als sie nach und nach die Kneipe betraten. Maxi hatte extra einen Tisch reserviert. Er wollte, dass alles wie an dem Tag war, an dem der Pakt geschlossen wurde. So war er auch schon eine halbe Stunde früher als ausgemacht dort erschienen, um ganz sicher zu gehen, dass ihr Platz frei war. Als Fabi um kurz vor 8 die Kneipe betragt, saß Maxi in der Ecke und trank eine Cola. Fabi grinste, kam auf ihn zugelaufen und begrüßte ihn. „Wie ich sehe, hast du dich an unseren Pakt gehalten.“ Maxi lächelte: „Unbedingt! Ich musste ja. Wie ist es bei dir gelaufen?“ Fabi wich seiner Frage aus: „Ich hab irgendwie Hunger. Ich glaube, ich bestell mir ne Pizza.“

Als nächstes kam Tim hereingelaufen und strahlte die beiden an. „Jungs, ich hab so gute Neuigkeiten“, verkündete er noch bevor er überhaupt „Hallo“ gesagt hatte. Die beiden baten ihn, zu warten, bis Axel kam, der etwas spät dran war. Alle drei tranken alkoholfreie Getränke, als er zu ihnen stieß. Er sah etwas verdutzt über den Tisch. „Ist das hier ein Treffen der Anonymen Alkoholiker?“, sagte er lachend. Er bestellte ein Bier, indem er durch die ganze Kneipe dem Kellner zurief. „Alkohol war nicht Teil meiner Auflagen“, sagte er, hing die die Jacke über die Stuhllehne und setzte sich. Alle waren gespannt, wer es geschafft und wer versagt hatte. Maxi hielt die Spannung nicht aus und fing gleich als Erster an zu erzählen:

„Jungs, ich bin seit genau 30 Tagen trocken. Nach unserem Abend hab ich mir vorgenommen, sofort nichts mehr zu trinken. Aber ihr wisst ja, wie das ist. Ich hab 10 Tage durchgehalten, dann war ich bei einer Familienfeier und wollte meinem Opa den Abend nicht versauen. Aber ich hab nur zwei Bier getrunken. Dann hab ich wieder einige Tage durchgehalten, wieder getrunken…na ja, das ging dann so weiter. Bis ich mir gesagt habe, wenn ich heute Abend hier herkomme und den Jungs sage, ich habe versagt…was bin ich dann für ein Weichei! Also, seit 30 Tagen bin ich trocken. Mir geht’s richtig dreckig, ich habe glaube ich richtige Entzugserscheinungen, aber mein Gewissen ist rein und das hilft mir.“ Als er fertig erzählt hatte, applaudierten die anderen, klopften ihm auf die Schultern, fanden lobende Worte. „Respekt, dass du das wirklich durchgezogen hast, Maxi“, sagte Axel zu ihm.

„Wer ist der Nächste?“, fragte Maxi mit einem breiten Grinsen im Gesicht in die Runde. Erstaunlicherweise war es Tim, der sich freiwillig meldete. „Ich hab eine Stelle gefunden, Leute, ob ihr’s glaubt oder nicht: ich werde zur Polizei gehen.“ Allgemeines Staunen machte sich zwischen den anderen breit. „Wow, du bei der Polizei, krass“, entfuhr es Fabi.
„Geil man, ich freu mich für dich“, sagte Maxi.
„Das sind tolle Neuigkeiten“, bekräftigte ihn Axel.
„Danke, Leute! Das ist eine große Sache für mich. Der Sporttest war echt nicht einfach, aber ich habe gedacht: halte durch, für deine Jungs. Und hier bin ich. Bis es losgeht, arbeite ich noch bei meinem Onkel. Genug rumgehangen, jetzt geht der Ernst des Lebens los.“
Die anderen freuten sich für ihren Kumpel. Es war gut losgegangen, alle waren positiv von einander überrascht. „Fabi, erzähl du“, verlangte schließlich Maxi von Fabi, der irgendwie herumdruckste. Sechs neugierige Augenpaare waren auf ihn gerichtet. „Leute, es fällt mir echt nicht leicht, das zu sagen, aber ich hab’s nicht gepackt…“, begann er zu erzählen. Maxi fiel ihm sofort ins Wort: „Du bist immer noch in deinem alten Job?“

„Ja, aber hört mal. Das war wirklich keine leichte Entscheidung. Nach unserem Gespräch habe ich viel über meine Situation nachgedacht. Ich habe mich wirklich oft beschwert und manchmal nur, um etwas gesagt zu haben. Wisst ihr, als ich mich nach neuen Stellen umgeschaut habe, da hatte ich diese Erkenntnis…es liegt gar nicht an meinem Job, sondern an meiner Einstellung. Ganz ehrlich, wenn ich mir einen neuen Job suchen würde, wäre es bestimmt nicht anders. Ich muss an mir selbst arbeiten, lernen, zufriedener zu sein, versteht ihr? Job ist Job. Woanders würde ich auch nur hinter einem Rechner hocken…Ich habe mich entschieden, dort zu bleiben.“
Die anderen fassten sein Geständnis relativ gelassen auf, ihr anfänglicher Unmut war Verständnis gewichen. Seine Erklärung machte Sinn und daher konnten sie nicht anders, als diese zu respektieren. Es gab nicht viel hinzuzufügen, bis auf die wenigen Worte von Axel: „Du hast das Richtige getan!“

Sogleich fiel die Aufmerksamkeit ihm zu, der jetzt an der Reihe war. Die anderen hatten längst bemerkt, dass auch er den Pakt nicht eingehalten hatte und so war es keine große Überraschung, als er anfing zu erzählen: „Was soll ich sagen? Damals habe ich wirklich gedacht, ich mache Schluss. Gleich am nächsten Tag bin ich zu ihr gefahren, um es zu beenden. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Wir haben uns heftig gestritten, völlig sinnlos, es gab nicht einmal ein Streitthema…ich bin dann rausgestürmt und abgehauen. Wir haben eine ganze Woche nicht miteinander geschrieben oder telefoniert. In dieser Woche…ihr könnt das vielleicht nicht nachvollziehen, aber in dieser Woche ist mir etwas klargeworden. Und zwar, dass ich sie liebe. Nicht einfach nur liebe, sondern brauche. Jungs, ich muss echt mit mir kämpfen, die Tränen zurückzuhalten. Ich bin zu ihr gefahren…ich hab diesen Ring gekauft und hab sie gefragt, ob sie mich heiraten will…“. Er hatte plötzlich einen Frosch im Hals und deutete nur auf einen Ring an seinem rechten Ringfinger.

Die anderen wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Innerhalb weniger Sekunden durchliefen sie mehrere emotionale Zustände: Entsetzen, Überraschung, Rührung und tiefe Achtung. Axel war der Erste aus ihrer Clique, der heiraten würde, sie wussten also nicht, wie man bei so etwas zu reagieren hatte.. Sie würden ein Mitglied verlieren, zumindest fühlte es sich im ersten Moment so an. Das Mädchen, das sie allesamt für verrückt gehalten haben, würde jetzt zu seiner Frau werden und damit den vollen, berechtigten Anspruch auf seine Zeit erhalten. Irgendwie waren sie neidisch. Keiner konnte der eben getätigten Aussage eine vernünftige Emotion zuordnen. Nicht aus Respektlosigkeit, sondern aus Unbeholfenheit.

Maxi, der noch vor einigen Wochen am heftigsten gegen seine Freundin gewettert hatte, fing sich als Erster und sagte frei heraus, was er dachte: „Axel, das ist…wow, du wirst heiraten! Das ist großartig! Ich meine, was ich gesagt habe…nein, vergiss alles. Du wirst heiraten! Das zählt, du liebst sie wirklich! Und ich war vielleicht neidisch auf sie oder zu kindisch, um das zu verstehen. Ich meine, du liebst sie so sehr, dass du dein ganzes Leben mit ihr verbringen willst. Ich…vielleicht war ich so, weil ich das selbst noch nicht gefunden habe. Das ist eine wirklich erwachsene Entscheidung. Glückwunsch, mein Freund! Ich freu mich für dich!“
Jetzt schoben auch Fabi und Tim alle Zweifel beiseite. Maxi hatte die Wahrheit gesagt, und dabei nicht nur für Axel gesprochen, sie alle hatten durch diesen Pakt etwas erkannt. Und diese Erkenntnis hatten sie genutzt, um wirklich erwachsene Entscheidungen zu treffen. Sie wussten nicht mehr, wann und wie sie ihre Jugend hinter sich gelassen hatten, aber sie verstanden jetzt, dass es okay war, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Freunde diese nicht immer für sinnvoll hielten.

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Von Lukas Böhl

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