„Stell dir Regen vor und versuch nicht an was Trauriges zu denken“, sagte Alissa zu mir, die am Fenster stand und mit ihren Fingern einigen Regentropfen folgte, die an der Scheibe hinunterliefen. Das klang wie eine abgedroschene Internetweisheit, aber tatsächlich konnte ich gerade an nichts Fröhliches denken, wenn ich die Tropfen so am Fenster zusammenlaufen sah. Es war dieselbe Trauer, die in Alissas Augen immer noch aufblitzte, wenn sie daran dachte, dasselbe Wasser, das in den letzten Stunden literweise daraus hervorgequollen war. Wir waren zusammen traurig, auch ich hatte geweint. Der Raum war traurig und schließlich wurde auch der Himmel traurig und weinte mit uns.
Wir hatten seit Tagen keinen Menschen mehr gesehen, das heißt, abgesehen von uns beiden und unseren Spiegelbildern, die in dieser Zeit so schrecklich fremd wirkten. „Bin das wirklich ich“, fragte ich mich jedes Mal, wenn ich an dem Spiegel im Flur vorbeilief. Diese Wohnung war unsere Festung geworden, in der wir uns vor all dem Glück und den guten Dingen dort draußen verstecken konnten, sodass nichts unseren Schmerz lindern würde. Wir beide wollten leiden, daran gab es keinen Zweifel. Wenn wir schon traurig waren, dann aber so richtig. Keiner von uns wusste, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde, aber wir waren uns einig, dass wir nicht einfach weitermachen konnten wie bisher.
Nun stand sie am Fenster und starrte wieder ins Leere, das Waldstück dahinter sah sie schon lange nicht mehr und ich lag auf der Couch und starrte ein Loch in die Decke. Ich war froh, dass sie da war, es wusste, und vielleicht auch ein wenig Schuld daran hatte. Unseren Freunden hatten wir gesagt, wir wären für eine Weile bei meinen Eltern. Sie hätten es vielleicht an unserem Verhalten erraten, wenn auch nur an einem kurzen Moment der Unbedachtsamkeit, in einer kleinen Regung im Gesicht, die nicht ins Schema passte. Ja, Freunde merken sowas. Wenigstens die, die einen wirklich kennen. Das Schweigen der anderen hätte in diesem Fall aber auch nichts gebracht.
Alissa trat vom Fenster weg und sah mich eine Weile mit ihren schönen, dunklen Augen an, so als suche sie etwas in meinem Gesicht. Was immer es war, sie fand es nicht. Also seufzte sie uns legte sich neben mich auf die Couch. Ich legte den Arm um sie und starrte weiter auf die Stelle an der Decke, die ich die letzten Tage so eingehend studiert hatte, dass ich jede Linie in der Maserung des Holzes blind hätte nachzeichnen können. Alissa atmete tief ein und blies die Luft dann mit einem langgezogenen Hauchen aus ihren Lungen, als würde sie mir sagen wollen: „Es reicht jetzt!“ Doch anscheinend reichte es nicht, denn sie neigte ihren Kopf zu mir und sagte: „Ich glaube, ich kann nie wieder aus dieser Wohnung.“ So sehr ich jetzt auch den männlichen Part dieser Beziehung übernehmen hätte wollen, um sie zu beruhigen und ihr Mut zuzusprechen, die Verzweiflung tief drinnen war größer.
Alles, was nach dem Filter durch diese Trauerblase noch übrig blieb, war ein irgendwie gleichgültiges und gleichsam nichtssagendes Brummen, das weder etwas Gutes, noch etwas Schlechtes bedeutete. Ich hatte schlicht keine Lust, etwas zu sagen, weil selbst das Sprechen sich jetzt nutzlos anfühlte. Das Warten war das Schlimmste an der ganzen Sache. Man konnte nichts machen, bis man es wusste. Das Ergebnis würde über den Rest ihres Lebens entscheiden und daher auch über meins, wobei sich das ohnehin schon erledigt hatte. Was ich schon wusste, war für sie nur eine Möglichkeit. Sie hatte noch eine Chance, zu entkommen.
Noch nie in meinem Leben habe ich mir einen Anruf so sehr herbeigewünscht und zur gleichen Zeit so sehr gefürchtet. Ich hatte wenigstens das Glück gehabt, es direkt zu erfahren, von Angesicht zu Angesicht. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen. Das ist als würde dich jemand erschießen. Wenn du es nicht kommen siehst, ist es nichts weiter. Wenn du aber weißt, dass es dich jede Sekunde treffen könnte, gehst du keinen Schritt mehr ohne diese Angst in dir. Und so war es, mich hatte der Schuss bereits getroffen und so sehr ich ihr auch zureden mochte, so wenig konnte ich ihr die Angst davor nehmen, wie es ist, erschossen zu werden. Ein Toter kann dir das Sterben ja auch nicht erklären.
Dann schraken wir beide auf einmal auf, das laute Vibrieren eine Handys riss uns aus unserer schwermütigen Schwelgerei und krachte wie ein Schlag in die Magengrube. Jetzt war es soweit, der Moment war gekommen. Wir schnellten beide auf. Ich fühlte mich, als würde sich eine Maus durch meine Bauchdecke fressen, mein Herz hämmerte mit der Geschwindigkeit eines Presslufthammers gegen meine Rippen und versuchte zu entkommen. Ich sah zu Alissa, sie war kreidebleich, die Augen weit aufgerissen, als hätte sie gerade einen Unfall gesehen. Ihre Hände zitterten synchron zu meinem immer schneller werdenden Herzschlag.
Das Handy, ihr Hand, lag auf dem Tisch und vibrierte, wie es schon tausende Mal zuvor vibriert hat, aber noch nie zuvor auf diese schreckliche Art und Weise. Es wollte uns sagen: „Heb mich auf, heb mich auf und ich sag dir, ob du leben oder sterben wirst.“ Alissa wollte danach greifen, zog ihre zitternde Hand aber gleich wieder zurück. Die Angst vor der Stimme am anderen Ende war lähmend. Das Handy mochte schon eine Ewigkeit geklingelt haben, aber wir konnten nur dasitzen und es anstarren. Vielleicht würde es ja aufhören zu klingeln. Nein, dachte ich, das wäre noch schlimmer. Es nicht zu erfahren oder zurückrufen zu müssen oder noch länger zu warten, das würde mich umbringen.
Wie von mir losgelöst, schnellte mein Arm nach vorn und meine Hände schnappten sich Alissas Handy. Ich drückte den grünen Knopf, hob es ans Ohr und wartete. Am anderen Ende sagte jemand: „Hallo?“ Es war eine ernste, diskrete Frauenstimme, formell und mit nahezu kühler Distanz. „Hallo?“, fragte ich ebenfalls ins Telefon.
„Hier ist Frau Doktor Lehmann. Herr Hermann, sind Sie das? Darf ich mit Ihrer Freundin sprechen?“, antworte die Frau am anderen Ende.
„Sicher“, erwiderte ich, ohne mir dem Sinn meine Worte bewusst zu sein. Ich hielt das Handy immer noch am Ohr.
Nach einer kurzen Pause sagte die Doktorin: „Frau Schneider, sind Sie dran?“ „Nein“, sagte ich ganz erstaunt, als hätte sie etwas völlig Abwegiges gesagt, als gäbe es keine Frau Schneider, nicht in diesem Zimmer, nicht in dieser Stadt, auf der ganzen Welt nicht. „Herr Hermann, ich würde gerne mit Ihrer Freundin persönlich sprechen. Ist sie da?“
„Warum rücken Sie nicht einfach mit der Sprache raus?“, rutschte es mir plötzlich raus.
Bevor Frau Lehmann antworten konnte, spürte ich, wie mir jemand das Handy aus der Hand riss. Es war Alissa, die sich wieder gefangen hatte und jetzt ganz souverän dreinschaute. Ich warf ihr einen fast böswilligen Blick zu und sprang auf. Ich musste mich bewegen, die Spannung war unerträglich. Also lief ich im Kreis um die Couch und summte irgendeine Melodie, um das Gespräch nicht mitzubekommen. Das funktionierte nur bedingt, denn nachdem sich Alissa für mein Benehmen entschuldigt hatte, folgte ein langes, aufmerksames Schweigen ihrerseits.
Ich verstummte und hörte hin, versuchte den Sinn der verzerrten Worte der Doktorin zu verstehen und gleichzeitig an Alissas Gesichtszügen zu validieren. Wahrscheinlich nervte sie Alissa mit ihrem typischen Doktoren-Gewäsch, mit dem sie einen quälen, bevor sie auf den Punkt kommen, der eigentlich in einem Satz hätte dargelegt werden können. Das konnte nichts Gutes bedeuten, dachte ich. Bei einer guten Nachricht reden die nicht so viel, schlussfolgerte ich und wurde noch nervöser. Ich lief auf und ab, ließ Alissa jedoch nicht aus den Augen. Dann formte sich plötzlich ein kaum merkliches Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie lächelte nur ganz wenig, nicht mal mit dem Mund, aber die Trauer war für einen Moment aus ihren Augen verschwunden und signalisierte mir, dass alles gut werden würde.
Würde es das? Mir wurde auf einmal schwindelig und meine Beine sackten ein. Schnell ließ ich mich aus das Sofa fallen. Wenn Alissa davongekommen war, ich aber nicht, was würde das dann für unsere Beziehung bedeuten? Sie war frei, ich war es nicht. Sie könnte mich jederzeit verlassen, einfach ihre Sachen packen und abhauen, das alles vergessen und neu anfangen. Ein mir bis dahin unbekannter Egoismus suggerierte mir, dass es besser gewesen wäre, wenn sie es auch gehabt hätte. Ein solcher Zorn auf sie kochte in mir hoch, dass ich schlagartig von der Couch aufsprang und ins Bad lief, wo ich mit voller Wucht gegen die Wand schlug. Ich warf den Deckel der Toilette runter, setzte mich hin und betrachtete mich in dem großen Spiegel, der an der Tür hing.
Ich fühlte mich elendig: „Was hast du geglaubt? Du bist doch selbst daran schuld! Du kannst gottfroh sein, wenn sie es nicht hat!“ Erst, als ich Alissas Schritte im Flur hörte, verschwanden die Vorwürfe und der Zorn und ich fühlte mich so mies für das, was ich eben gedacht hatte. Sie konnte nichts dafür, sie war so lieb, so wundervoll, so gut zu mir. Was konnte sie für meine Vergangenheit? Es klopfte leise an der Tür. „Bist du da drin?“, drang ihre liebevolle, wunderbare Stimme zu mir. „Ja, verdammt, ich bin hier drin! Lass mich und geh fort. Ich hab dich nicht verdient!“, wollte ich rufen. Stattdessen bekam ich nur ein bemitleidenswertes „Ja“ hervor. „Kann ich reinkommen?“, fragte sie schließlich.
Natürlich konnte sie das, nichts wollte ich jetzt mehr als eine Umarmung von ihr. Und da war sie schon. Sie öffnete die Tür, sah mich dort sitzen, kam zu mir gelaufen und drückte meinen Kopf an ihren Bauch und streichelte mich sanft mit ihren weichen Händen. Da konnte ich es nicht länger an mich halten und heulte los wie ein Schlosshund, während sie mir mit beiden Händen durch die Haare fuhr und einfach schwieg. „Bist du okay?“, fragte ich, ohne das Gesicht von ihrem Bauch zu nehmen.
„Negativ.“
„Oh Gott, danke! Danke!“, ich spürte plötzlich eine unbändige Freude in mir, sprang auf und drückte und küsste sie. „Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn…Es tut mir so leid, dass du das durchstehen musstest…ich meine, du kannst ja nichts dafür, dass ich so…so fahrlässig war und…ich fühle mich so schlecht, aber ich freue mich so für dich…“
„Ssssch“, unterbrach sie mich und küsste mich auf den Mund. In meinem Kopf waren so viele Dinge, die sich in mir angestaut hatten, in den letzten Tagen und Wochen. Das alles drängte sich jetzt dort drin und wollte in einem wirren, unverständlichen Redeschwall ausbrechen . Aber sie hob mir nur den Finger an den Mund und sagte: „Ich liebe dich! Punkt. Aus.“