Farben nachlaufen

Seit ungefähr zwei Stunden werde ich von einem Zitronenfalter verfolgt. Er muss irgendwo an der Kreuzung von Wald- und Feldweg aufgetaucht sein und war seitdem nicht mehr von meiner Seite gewichen. Ich hebe den Fuß, er faltet die Flügel, ich senke ihn, er schlägt sie auf. Ich lasse ihn gewähren, denn die Menschen werden von allen möglichen Dingen verfolgt, in ihren Träumen und auf ihren Spaziergängen.

Wenn ich noch eine Weile laufe, wird vielleicht sein Flügelschlag zwischen den anderen Geräuschen des Waldes zu meinen Ohren vordringen und mich daran erinnern, wie wichtig es ist, auf die kleinen Dinge acht zu geben. Bis dahin konzentriere ich mich auf die Schönheit des Waldes, in den nach einem langen Winter endlich wieder Farbe zurückgekehrt ist.

Mein flatternder Freund ist nur ein gelber Klecks auf dem frischen Grün, das aus den Ästen sprießt und sich der Sonne entgegenstreckt. Die Vögel singen, obwohl ich der Einzige bin, der ihnen zuhört. Selbst wenn ich nicht hier wäre, würden ihre Melodien im Wald erklingen. Das unterscheidet sie neben ihrer Freiheit zu fliegen von den Menschen.

Ich bleibe stehen, um einer besonders schönen Tonfolge zu lauschen. Ein Vöglein stimmt das Lied an, ein zweites antwortet. Es sind nur fünf oder sechs Noten, die reichen, um mich für einen Moment in ihren Bann zu ziehen. Ich drehe mich um, der Zitronenfalter beschreibt einen Kreis, dann noch einen. Er wird nicht weiterfliegen, bis ich mich von der Stelle rühre. Die Tiere verhalten sich im Frühling sehr merkwürdig, stelle ich fest und setze meinen Spaziergang fort.

Mal blendet die Sonne, mal wird sie von den Blättern einer Buche eingefangen. Der Wind raschelt in den Baumkronen und erzählt eine Geschichte, deren Sinn sich einem gewillten Zuhörer eröffnen würde, wenn er nur ausreichend Geduld mitbrächte. Doch weder ich noch mein geflügelter Gefährte haben heute die Zeit dafür. Viel zu viel passiert vor unseren Augen, dringt zu unseren Ohren und betört unsere Nasen. Ich komme mit meinen Sinnen kaum hinterher, jeder Empfindung nachzugehen, und beneide den Falter nicht um seine kleine Schmetterlingswelt.

Noch eine Weile folgen wir dem sonnenerleuchteten Weg, bis wir zu einer Lichtung am Hang gelangen. Einige Meter unterhalb steht eine Bank, auf der ich mich ausruhen möchte. Auch er scheint müde zu sein und folgt mir auf der Stelle. Ich lasse mich nieder und strecke die Hand aus, damit er sich eine Weile erholen kann. Anstandslos nimmt er das Angebot an, lässt sich nieder und lässt die Flügel sinken.

Er wiegt kaum mehr, als die Sonnenstrahlen auf meiner Hand und ist von einem ähnlichen Gelb. Unsere Blicke schweifen ab, erst ins Tal hinunter, dann auf die andere Seite, wo die Höfe stehen und die Bäume nur noch einzeln auf den Feldern wachsen dürfen. Zwischen dem Grün der Wiesen, dem Gelb der Sonne und dem Blau des Himmels taucht ein kleiner roter Fleck auf.

Mein Blick senkt sich zum Zitronenfalter, auf dessen linkem Flüge sich ein roter Punkt abzeichnet. Rot wie Menschenblut. Erschrocken hebe ich den Finger, um es abzuwischen, als der Zitronenfalter sich plötzlich in die Luft erhebt und davonfliegt. Schnell springe ich auf, um ihm nachzustellen. Er ist zu flink, entwischt meiner Hand im letzten Augenblick und tänzelt zwischen den Bäumen hindurch.

Weit bis in den Wald, wo die Bäume dichter stehen und es schwerer wird, ihn mit dem Auge auszumachen, folge ich ihm. Geschickt wie er ist, fliegt er nur so weit davon, dass ich glaube, ihn jeden Moment zu erwischen, nur, um dann einen Haken zu schlagen und in die andere Richtung zu flüchten. Bald erreichen wir eine große Buche, deren Äste sich wie Trittstufen am Stamm nach oben schlängeln.

Dort macht er halt, umfliegt zweimal den Baum, bevor er sich nach oben schwingt und mir mit einer hakenförmigen Bewegung mitteilt, ich solle ihm folgen. Vorsichtig greife ich den ersten Ast, der nur einige Zentimeter über meinem Kopf hängt und ziehe mich nach oben. Der Falter sitzt jetzt zwei Meter über mir auf einem anderen Ast. In der Hoffnung, ihn zu fangen, hieve ich mich rasch nach oben. Wieder entwischt er mir, lässt sich aber sogleich auf dem nächsten Ast nieder.

Weiter steige ich den Baum empor, Meter um Meter, der Falter immer nur eine Handbreite entfernt, doch nie nah genug, um ihn zu schnappen. Der Stamm wird dünner, ich werde schwächer, mehr und mehr scheint der Falter mit der Sonne zu verschmelzen. Ich bin so weit oben, dass ich fürchte, die dünnen Äste können mich nicht mehr tragen. Also bleibe ich stehen und richte meinen Blick auf.

Mein gelber Begleiter fliegt davon, der Sonne entgegen. Ihr grelles Licht raubt mir die Sicht, ich wende mich ab. Als ich wieder hinsehe, drehen sich zwei blaue Lichter um sie. Ich falle. In den Baumwipfeln schreien die Vögel laut wie Sirenen. Ich fliege rückwärts, mit dem Rücken zum Boden. Wieder sehe ich das Rot. Unendliche Schmerzen. Angst.

Dann komme ich auf, ich lande auf den Füßen, unter mir Asphalt und ich laufe, schnell, sehr schnell, fast wie im Sprint. Das Blau, das Rot verschwinden, wieder sehe ich den Wald, der Weg, auf dem ich laufe, führt direkt hinein. Alles ist normal, Luft strömt durch meine Nase zu meinen Lungen, die Schmerzen haben aufgehört, ich bin nur außer Atem.

An der Weggabelung, die in den Wald führt, bleibe ich stehen, um mich für einen Augenblick auszuruhen. Alles wirkt so friedlich im stillen Licht der Sonne, die jetzt hoch über mir steht. Plötzlich lässt mich ein Flattern aufsehen. Ein winziger, gelber Schmetterling beschreibt im Flug einen Bogen und zieht an mir vorüber.

Ich sehe ihm nach und frage mich, wo er hin will. Kurz überlege ich, ihm nachzulaufen. Doch eine seltsame Ahnung hält mich fest. Noch einige Sekunden sehe ich ihm nach und beobachte, wie er im Wald verschwindet. Dann setze ich meinen Lauf fort, ohne zu wissen, wo Schmetterlinge im Frühling hinfliegen.

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Von Lukas Böhl

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