Gastbeitrag von Bernhard Straßer*
Als Ronny fuhr, wurde die Feier schnell zu einer jener Mädchen-Partys, auf denen viel gegluckst und gekichert wurde. Es hatte endgültig zu Regnen aufgehört und wäre es nicht tiefschwarze Nacht gewesen, dann hätte strahlend die Sonne geschienen. Die Mädchen gossen sich die weißen Becher und Brausepäckchen mit Vodka und/oder Red Bull voll und wetteiferten, wer am meisten trinken konnte. Die Bank, auf der sie saßen, neigte sich bedrohlich nach oben und unten, je nachdem, wer gerade außen saß und wie viele gleichzeitig aufstanden und das Gleichgewicht zerstörten. Windstill war es, und die Luft konnte sich nicht entscheiden, ob sie kühl bleiben oder warm werden sollte. So blieb sie neutral. Warm genug, um mit einer Jacke auf der Veranda zu sitzen, aber zu kalt, um sie länger als zwei Minuten ohne Gänsehaut auszuziehen. Immerhin, es regnete nicht mehr. Ein wenig verrückt war es ja schon, dass sich meine Freundin ausgerechnet mit meinem damaligen „favorite girl“ anfreundete. Aber anders wäre es ja gar nicht gegangen, Kath stressfrei über so lange Zeit fast wöchentlich zu treffen. Ein Teufelsspiel. Denn Kath war Vodka in Mädchengestalt. Kühl und berauschend, aber meist im Kater endend. Außerdem war Kath fast nur auf Partys, also am Wochenende, und da meist nur nachts wirklich genießbar.
Vodka trinkt man entweder pur, oder man mischt ihn mit Orangensaft. Dann wirkt er nicht so schnell, aber man kann mehr davon trinken. Am nächsten Morgen geht’s einem aber genauso schlecht und man hat einen zusätzlichen grausigen Beigeschmack nach schalen Orangen im Mund.
Kaths Orangensaft war Ela. Ein nettes, durchgeknalltes Mädchen, das seine wahre Wirkung aber erst im Doppelpack mit Kath entfalten konnte. Und Ela war gelangweilt. Sie hatte sich den Fuß verstaucht, nachdem sie Ronny hinterher gestürmt war, als dieser überhastet die Party verlassen hatte. „Kein Bock auf Weiberpartys“, waren seine letzten Worte. Das war eine der vielen Gemeinsamkeiten, die Ela in ihm sah. Sie wollte ihn aufhalten und war im vollen Lauf über die Verandabank gestolpert. Jetzt hatte sie endgültig keinen Bock mehr und fluchte vor sich hin, dass sie endlich pennen wolle.
Um eine Weiberparty zu neutralisieren, gibt es nur ein Rezept: Männer. Also köderte ich Ela, indem ich ihr Männer versprach. Ich huschte mit Ela und Kath, unerkannt von der Gastgeberin, in die Dunkelheit hinaus und wir stellten uns vor dem Haus in der weitläufigen Provinzstadtsiedlung an die nächst größere Straße. Was von meiner Seite her als Ela – Aufmunterungs – Gag geplant war, endete in purem Ernst. Ela Wirbelwind warf sich auf die vorbeifahrenden BMWs, bis der erste endlich stehen blieb. Kath und ich kugelten uns vor Lachen und Erleichterung, als der Wagen kehrt machte und in die Gegenrichtung abdüste:
„Die haben Angst vor dir, Ela!“, rief Kath.
„Die waren eh hässlich. Verpisst euch, ihr Penner!“, schrie Ela.
Ich meinerseits nahm Anlauf und sprang in hohem Bogen gegen die dunkel schimmernde Hecke. Wassertropfen spritzten mir um die Ohren und meine Jacke durchnässte sich.
„Was war das denn?“, fragten die Mädchen.
„Heckensurfen.“
Noch ehe ich das Wort ausgesprochen hatte, landete Ela in hohem Bogen neben mir in der Hecke.
„Bäh, das ist ja nass!“, schrie Ela. Dann stürzte sie sich auf Kath, rang eine Weile mit ihr, und schleuderte sie mit meiner Mithilfe mit Schwung ihrerseits in die Hecke. So ging das eine Weile, bis ich vorschlug, zum Spielplatz weiterzuziehen.
„Hier ist ein Spielplatz?“, rief Ela und begann zu laufen.
Kath und ich hinterdrein. Im Sprinttempo die Blumenstraße entlang, an der Kreuzung scharf nach links abbiegend, sprangen wir in das dunkle, unbeleuchtete schwarze Loch zwischen den Hochhausblocks. Eine Schaukel. Die beiden stürzten sich darauf, holten Schwung und schaukelten sich in luftige Höhen. Ein Freudenjauchzer. Ela sprang in die Nacht hinein. Kies spritzte, als sie landete. Ich griff nach Kath. Immer dann, wenn die Schaukel und sie bedrohlich auf mich zu pendelte, bremste ich ihren Schwung ein wenig ab, bis sie schließlich ganz zum Stehen kam. Dann sprang sie auf und rannte zur Seilbahn, auf der sich nur Momente später Ela und Kath in einem wilden Rauschen von Mast zu Mast schwangen.
Gern hätte ich mich zwischen das menschliche Knäuel geworfen, wenn sich das Seil nicht schon ohne mein Gewicht bedrohlich nach unten gebogen hätte. Ausgelassenes Gekreische begleitete die nächtlichen Seilbahnfahrer auf jeder ihrer Runden, ehe auch dieses Spielzeug seinen Reiz verlor und Kath auf die hölzerne Burg kletterte.
Mit raschen Griffen erklomm sie das Gerüst, stand schließlich oben, und da sie keinen anderen Weg wusste um wieder hinab zu steigen, sprang sie aus luftiger Höhe plumpsend auf den Sand hinunter. Dann wieder zurück auf die Straße. Aber nicht, ohne Kath noch in die Hecke zu schupsen. Sie wehrte sich protestierend.
Ela schrie: „Hilf mir, hilf mir!“, und ich warf mich zwischen die Mädchen, die in lautem Geschrei auseinanderstoben und schließlich ich voran in die nasse Hecke donnerte und die Mädchen auf mich drauf. Mit nassen Jacken, auf denen Äste und Blätter klebten, kehrten wir zur Party zurück. Drei der Typen aus einem der BMWs von vorhin, hatten es sich dort gemütlich gemacht. Die Weiberparty war also beendet und es gab keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen.
Wäre da nicht noch die Sache mit Nico gewesen. Nico, kurze dunkle Haare, hübsche Augen, sportliche Figur, gewinnendes Lächeln, kam erst spät auf die Party. Ich dachte mir nicht viel dabei, schließlich war Nico einfach Nico und die Beziehungsfäden der Partygäste waren längst gesponnen. Aber Nico war immer für Überraschungen gut. Schließlich war Nico nicht nur meine beste Freundin, sondern dem Grunde nach auch seit Monaten fest vergeben. Aber so war Nico halt. Nix is fix und ihre Begrüßung bestand aus dem simplen Wort: „Solo.“
„Seit wann?“, fragten die Mädchen.
Nico schaute auf die Uhr: „A Stünderl.“
„Er oder du?“
„Ich natürlich“, sagte Nico. „Ich hab Schluss gemacht. Hab einfach keinen Bock mehr auf Albernheiten gehabt.“
Nico nahm einen kleinen am Tisch stehenden Eimer, der noch bis zur Hälfte mit Eiswürfeln gefüllt war. Sie goss eine halbe Flasche Vodka hinein und füllte den Rest mit Red Bull auf. Dann hob sie den Eimer in die Höhe, stieß ein kurzes „Prost!“ aus und nahm einen nicht enden wollenden Schluck aus dem Eimerchen.
„Sonst noch wer?“, fragte sie und grinste.
Ich hätte es bemerken müssen, sie grinste Kath an. Auf deren Gesicht zeichnete sich ihrerseits ein faszinierter Glanz ab und während Ela beschäftigt war, die unwillkommenen Gäste in Schach zu halten und die Weiberparty in eine Männerparty zu verwandeln, schien Kath recht glücklich darüber zu sein, dass immer noch genug Frauen auf der Party waren. Innerhalb von Sekunden wurde ich zum Mühlstein meiner beiden Favoritinnen. Auf der einen Seite Nico, die Unkonventionelle, die mich schon immer gemocht hatte. Auf der anderen Seite Kath, die Ausgelassene, die ich schon immer gemocht hatte. Ich warf der Gastgeberin einen unsicheren Blick zu, doch sie war beschäftigt mit Kichern und Glucksen.
„Wer ist sie?“, fragten mich Kath und Nico unabhängig voneinander und ohne ihre Begeisterung zu verhehlen und ich konnte mein Pech kaum fassen. Wenn Minus mal Minus gleich Plus ergeben, warum ergibt eigentlich Plus mal Plus nicht Minus? Egal, Tatsache war, dass die Männerwelt jeden Moment mit einem Schlag um zwei der begehrtesten Junggesellinnen ärmer sein könnte, wobei die eine von ihnen erst seit einer Stunde wieder auf dem Markt der freien Verfügung stand. War dies nicht um alles in der Welt zu verhindern? Und warum war ausgerechnet ich die einzige Vertretung der männlichen Welt, die diesen Umstand rechtzeitig erkannte und nun zum Handeln gezwungen war?
Ich warf noch einmal einen Blick auf die Gastgeberin und dachte: „Hier steh ich nun und kann nicht anders.“
Ich wollte mich auf das Duell einlassen, koste es, was es wolle. Wie zum Startschuss stellte ich die beiden einander vor. Das Duell konnte beginnen. Ich musste mich in Windeseile entscheiden, auf welcher Seite ich mich in die Bresche werfen wollte, aber die Entscheidung war längst gefallen:
„Kath, das ist meine Ex Verliebte, Nico“, was so viel hieß wie: „Lass die Finger von ihr!“
Und umgekehrt: „Nico: Dies ist die Prinzessin von jenseits der Donau: Die wunderbare Kath“, was so viel hieß wie: Lass die Finger von ihr, die gehört mir (falls meine Freundin mich irgendwann mal zum Teufel schicken sollte und sie immer noch Single wäre und ich nichts besseres mehr in Aussicht hätte).
Leider, leider, ließ sich keine der beiden von meinen drohenden Worten beeindrucken. Nico reichte Kath höflich den Vodka-Eimer und Kath, die im Grunde längst genug hatte, zeigte guten Willen und nahm noch einen großen Schluck. Es folgte ein etwa zehnminütiges belangloses gegenseitiges Kennenlernen in Form guten alten Smalltalks.
„Was machst du so?“
„Ach und du hast keinen Bock mehr auf Scheiß Männer?“
Und: „Ja, das Lied find ich auch voll toll.“
Ich, mittendrin, bemühte mich, die negativen Eigenschaften des jeweiligen Mädchens herauszustreichen und ins rechte Licht zu rücken. Aber es war hoffnungslos. Sie mochten sich. Als erleichternd empfand ich einzig, dass Ela ihre BMW-Jungs nicht mochte. Sie schaute genervt in die Runde und nahm meine Aufforderung zum Tanzen erleichtert an. Also ließen wir die mit seltsamen Jungs gespickte Weiberparty Weiberparty sein und legten einige orientalische Rhythmen auf den Plattenteller, zu denen wir auf einer Bierzeltbank auf und ab wackelten. Das schummrige Licht und die rhythmischen Klänge zogen immer mehr von draußen nach drinnen und im Nu war der Raum gefüllt mit Bauchtänzerinnen, die ihre Hüften zum Takt der Musik kreisten. Nicht lang dauerte es, bis auch Nico und Kath, endgültig angetrunken, bei der Tür hereinstürzten, sich gegenseitig stützten und die Bierzeltbank erklommen. Ein ägyptischer Popheld namens Hakim schmalzte in einer Mischung aus Türken-Pop und mesopotamischen Ska und auch ein Antifreund derartiger Musik wie ich wusste sich nicht anders zu helfen, als die Hände in die Luft zu recken und die Beine zu schwingen. Nicht selten klimperten die Gläser im Schrank, schwankte die Lampe und kippte eine der Bierzeltbänke, wenn die übermütigen Tänzerinnen das Gleichgewicht verloren, aber es ging wie durch ein Wunder nichts zu Bruch. So wurde aus Mitternacht mitten in der Nacht und die Party wurde zweigeteilt. Draußen die Getränke, drinnen der Tanz. Die drei BMW- Typen fanden die ganze Feier mit der Zeit noch seltsamer als sie es selbst waren und verabschiedeten sich. Glücklicherweise wurde die Party aber doch nicht wieder zu einer Weiberparty, da zeitgleich Partycrasher von einer nahegelegenen Geburtstagsfeier eintrudelten: Ein dicker Rasta und Nicos frisch geexter Freund. So tanzten drinnen die Haremsdamen mit kreisenden Armbewegungen und draußen wurde die vierte Flasche Vodka in den Altglasbehälter geworfen und erneut klirrten die Bierflaschen, als sich jeder ein lautes „Frohsinn“ zurief.
Der Regen war nicht mehr zurückgekommen. Die Nacht war still, abgesehen vom ägyptischen Gegröle, das aus der Hütte drang. Das Getrappel auf der Treppe im Haus hatte sich inzwischen von einem schnellen Tipp tipp tapp zu einem unregelmäßigen Bong bong stürz, ausrutsch bams verwandelt. Die erste war bereits, in einem purpurroten, seidenen Schlafanzug schwankend, im Matratzenlager verschwunden. Eine andere diskutierte, über der Kloschüssel hängend, mit sich selbst, ob sie nun endlich kotzen solle oder nicht. Als ich zurück in die Hütte ging, zwängte ich mich taktisch klug zwischen Nico und Kath auf die Bierzeltbank und ließ mich von den geschickten Schlangenbeschwörerinnen hypnotisieren. Nur half das alles nichts. Ich spürte Nicos Hand an meiner Hose vorbei wandern und sah, wie sie auf Kaths Hüfte landete. Auch von der anderen Seite wanderten zwei Arme an mir vorbei und verharkten sich auf der Taille von Nico.
„Jetzt ist es Zeit zu strippen“, flüsterte Nico über meines in Kaths Ohr.
Und als ich merkte, dass sie auch an Kaths Gürtel herumnestelte, wusste ich, dass der Abend ab jetzt seine ganze eigene Dynamik entfaltete. Ich löste mich aus der Umklammerung und sprang von der Bank. Damit schuf ich aber nur noch mehr Platz für Unanständigkeiten. Nico begann mit der Bluse ihres Opfers zu spielen und Kaths Nabel blitzte darunter hervor. Die Bluse wanderte höher und höher und gleichsam geschockt wie fasziniert hoffte ich, dass sich auch Kaths letzte Geheimnisse lüfteten. Doch Nico blieb seltsam sittsam. Sie begnügte sich mit Hüfte und Bauch, wie es sich für eine Bauchtänzerin gehörte. Kath wirkte wie weggetreten und ich sah, wie sich ihre Augen nicht zwischen Nicos und meinen entscheiden konnten. So fasste ich den Entschluss, wieder rauf auf die Bank zu hüpfen und meine Grenzen in Sachen Kath auszuloten und um Nico eins auszuwischen. Doch als ich schon ein Bein zwischen den Turtelnden gestellt hatte, betrat Nicos Ex die Tanzhütte. Hinter ihm die Gastgeberin. Diese verzog nur kurz das Gesicht, grinste nur und tanzte mir ihre Arme um meinen Hals und schlängelte ihr Bein zwischen meine. Zu spät, zu spät. Ich sprang erschrocken von der Bank. Doch auch Kath zeigte sich beeindruckt von der plötzlichen Wiederherstellung der alten Verhältnisse, so dass sie von der Bank stieg und sich in Richtung Toilette verabschiedete. Nico warf einen bösen Blick nach unten und es war schwer zu sagen, ob er mir galt, meiner Freundin oder ihrem Ex, der ebenso böse zurückschaute. So düdelten die türkischen Dudelsäcke und unidentifizierbaren orientalischen Musikinstrumente weiter vor sich hin und da meine Freundin, die äußerste Ekstase längst erreicht, zu Nico auf die Bank hüpfte und Kaths Platz einnahm, ging ich hinaus in die sich dem Morgen nähernde Nacht, um ein paar Liter frische Luft in Co2 zu verwandeln. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Haustür, öffnete mir eine Flasche Becks Gold und sah durch die trüben Fenster dem Treiben in der Hütte zu. Auf den Stühlen im Garten war es ruhig geworden, einige Gestalten saßen müde da und drehten sich Zigaretten, warfen sich gegenseitig verschwommene Gesprächsthemen zu. Ich saß da und ließ Luft durch meine Lungen strömen. Ich stellte mir vor, welches der Mädchen sich Ronny geschnappt hätte, wenn er geblieben wäre und wusste, dass es Kath gewesen wäre. Ich ließ den bitteren Geschmack des milden Bieres über meinen Gaumen kriechen und freute mich, dass ich doch noch so alt geworden war, dass mir Bier wahrhaftig schmeckte.
Kath setzte sich neben mich auf die Stufen, legte ihren Kopf auf meine Schultern. Schweigend und doch mehr sagend als ein Dichter auf hundert Seiten ausdrücken könnte.
„Weißt du noch, als Chris uns vorstellte?“, fragte ich und am Himmel trat ein Flugzeug den Landeanflug zum nächsten Flughafen an. Kath nickte.
„Ich wusste damals alles über dich. Wie du heißt, wo du wohnst, dass du einen Freund hast. Aber wer du bist, das wusste ich nicht.“
„Zwei Jahre später sitzen wir da…“
„Und ich weiß immer noch nicht, wer du bist.“
Sie hielt den Kopf schräg und grinste schief. Dann musste sie laut und hell lachen.
„Du alter Suffkopf, laber mich nicht mit so seltsamen Philosphiescheiß zu!“, lachte sie, sprang auf, hüpfte tänzelnd im Kreis und rief: „Lass uns was machen!“
Ich nahm die Einladung gerne an, packte Kath bei der Hand und verschwand mit ihr um die Ecke zurück auf die Straße, wo uns die Hecken bange Blicke zuwarfen.
„Was hast du vor?“, fragte sie, doch ich sagte nichts. Ich führte sie schnellen Schrittes die Straße entlang, an den letzten Siedlungshäusern der Stadt vorbei, unter die lang gezogene Eisenbahnunterführung durch. Ich zog sie an der Hand und ließ sie erst los, als wir vor einem großen Feld standen:
„Blumen selbst schneiden“
Daneben: „Erdbeeren selber pflücken“
Und noch ein Feld daneben: „Spargel selber stechen.“
Ich sprang in das weitläufige Feld, in dem die buntesten Blumen in sämtlichen Variationen wuchsen. Sorgfältig wählte ich mir eine besonders graziöse Pflanze aus, riss sie am unteren Stängel ab und reichte sie Kath: „Hab ich für Dich gepflückt“, sagte ich und sie kicherte.
Dann musste sie lauter lachen, da ihr die Situation doch zu komisch erschien.
Ich deutete zu der Kasse, die an einer Stange montiert war: „Ob dort jemals jemand etwas bezahlt? Man wird doch geradezu eingeladen, etwas zu klauen.“
Kath kramte in ihren Taschen, fand ein fünfzig Cent Stück und warf es durch den Schlitz. Etwas verdutzt sah ich sie an: „Du lädst mich also dazu ein, dass ich Dir eine Blume schenke?“
„Immer noch besser, als sie zu klauen.“
„Heb dir dein Geld lieber für die Erdbeeren auf.“
Kath steckte die Blume durch ein Knopfloch ihrer Wolljacke und trug sie stolz auf ihrer Brust. Wir sprangen über eine kleine Absperrung ins Erdbeerfeld. Da der Boden noch feucht war, zog ich meine vom Heckensurfen ohnehin nicht mehr tragbare Jacke aus und breitete sie für uns beide auf dem erdigen Boden aus. Wir setzten uns inmitten des Erdbeerfeldes und fühlten uns wie im Schlaraffenland. So weit die Arme reichten, wuchsen die süßen Früchte.
„Was war das eigentlich damals mit dem Kuss?“, fragte ich in die schmatzende Stille hinein. Verdutzt sah sie mich an: „Was fürn Kuss? Was meinst du?“
„Du kannst dich überhaupt nicht mehr erinnern?“, fragte ich enttäuscht. „Im Winter, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Auf der Abschiedsparty im Studentenwohnheim.“
Kath verschluckte sich, musste husten. Sie lachte wieder. Lachte lauter, lachte schriller. Sie warf, sich kugelnd, die Beine in die Höhe und klopfte mit der Hand auf ihren Oberschenkel.
„Scheiße, das hab ich ganz vergessen! Das Knutschfoto! Ich wollte unbedingt ein Foto, das aussieht, als ob wir wild herumknutschen!“
„Was du ja bekommen hast.“
Sie lachte weiter: „Ja, aber nur das gestellte Foto.“
Ich seufzte still. „Leider.“
Aber sie lachte darüber hinweg. Weit im Osten über den Dächern der Stadt wurde das Schwarz bereits von einem freundlichen Dunkelblau durchbrochen. Rings umher erwachten die ersten Vögel und weckten sich noch zaghaft mit erwartungsfrohen Melodien. Kath saß auf meiner Jacke im Erdbeerfeld und sah mich kauend an. Sie schmunzelte. Ihre Haarpracht versteckte sie unter einer Kapuze und nur ihre wachen Augen, das glitzernde Piercing und der hungrige Mund lugten daraus hervor. Mir fiel auf, dass sie sich äußerlich gar nicht verändert hatte. Sie sah noch immer jung und abenteuerlustig aus, genau wie auf dem ersten Foto, das ich damals von ihr geschossen hatte. Und so viel wir auch seitdem zusammen erlebt hatten, waren wir einander zwei fremde Menschen geblieben, die sich auf eine unerklärliche Art mochten, ohne jemals zuviel dem anderen preisgegeben zu haben. Ich hatte Mädchen wie sie schon immer gemocht. Aber den Kontakt über Jahre hinweg so lebendig und frisch wie am ersten Abend aufrecht zu erhalten, das war mir nie gelungen.
„Zwei Jahre“, sagte ich mehr zu mir selbst. Wie lange würde es also dauern, um zwei Jahre wieder zu vergessen?
„Ich bin satt“, sagte Kath und wir stapften Reihe für Reihe weiter ins letzte Feld.
„Spargel selber stechen“, murmelte Kath. „Ob der noch gut ist? Es ist doch gar keine Spargelzeit mehr.“
Ich nickte.
„Weißt du, wie das geht?“ fragte sie.
„Ich weiß nicht einmal, wie Spargel schmeckt“, antwortete ich.
„Sei froh. Dann weißt du auch nicht, wie es riecht, wenn man Spargel pisst.“
Neben dem Kassenhäuschen hingen eine Reihe unterschiedlich großer Handspaten. Ich nahm mir einen mittlerer Größe und begab mich in die Mitte des Feldes. Kath und ich knieten uns in den lehmigen Boden. Uns war es egal, dass sich die Knie braun färbten und nass wurden. Ich begann um die Spargelpflanze herum zu graben und versuchte, an dem aus der Erde herausschauenden Ende zu ziehen. Aber nichts rührte sich. Kath beobachtete mich eine Weile grinsend. Als ich fluchend mit dem Spaten auf den Spargel einzuhacken begann, fiel sie in ein hysterisches Lachen, das in falsettartigen Staccatotönen gipfelte. Sie lachte immer lauter und ihr Oberkörper sackte bebend über mir zusammen und einen Moment später lag ich mit, einen Spaten in der Hand, rücklings zwischen aus der Erde ragender Spargel und auf mir drauf eine Kath, die auf einmal ganz still wurde. Sie stützte sich mit ihren Händen auf meiner Brust auf und sah mich, vom Lachkrampf schwer atmend, lange an. Um einen kompletten Herzstillstand zu entgehen hob ich den Arm, versuchte sie von mir herunterrollen, allerdings landete meine Hand in ihrem Haar, vergrub sich darin und machte keine Anstalten, wieder herauszukommen. Aus der Ferne bellte ein Hund und ich spürte die Nässe, die durch meine Kleidung kroch. Es wäre rein körperlich ein leichtes gewesen, das Fliegengewicht Kath zur Seite zu werfen, aber der Kopf befahl eine komplette Lähmung sämtlicher Körperteile. Bis auf eines.
Der Nase nämlich. Die vernahm einen verführerischen Kath-Duft, der mir bisher noch nie aufgefallen war. Auf eine seltsame Art und Weise war ich Kath außer auf dem faked Knutsch-Foto nie so nahe gekommen und ihr Duft irritierte mich mehr als diese mich betäubenden dunklen Augen, die mich am Boden festnagelten. Meine linke Hand tastete sich über den Boden, Halt suchend. Klammerte sich an ein seltsames Etwas fest. Kath wendete ihren Kopf, ihre Wangen in meine Handflächen hinein und schloss die Augen. Meine zweite Hand zog fester an dem Etwas in der Erde. Kath bewegte ihre Hände auf mein Gesicht zu und nach einem ruckartigen Nachlassen der Gegenkräfte schnellte meine linke Hand auf meinen Oberkörper zu, versperrte den ersehnten Mädchenhänden ihren Weg zu meinen Wangen und ich hielt einen dicken, schmutzigen Spargel in der Hand. Kath schaute ihn einen endlosen Moment lang an. Und begann zu lachen. Sie lachte und rollte sich von mir herunter und lachte und im nächsten Moment war es, als wäre nichts geschehen. Ich hielt einen Spargel in der Hand und nur unsere von Lehmklumpen übersäten Hosen verrieten, dass vielleicht doch gerade etwas geschehen hätte sein können.
Wir spazierten zurück zu den langsam vom fahlen Morgenlicht beleuchteten Siedlungsstraßen. Vor der Haustüre lag ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren auf den Stufen und schnarchte. Meine Freundin diskutierte gerade mit einem wahrhaftigen Schwankmonster, dass es unsinnig sei ein Taxi zu bestellen und sie doch einfach hier übernachten solle. Als sie mich kommen sah, unterbrach sie kurz die Diskussion und musterte mich: „Wie schaust du denn aus?“
In der Hütte versuchte Nico ihren Ex-Freund aus dem Koma zu erwecken und schmiss ihn von der Couch, um sich kurz darauf selbst hinauf zu legen. Zur gleichen Zeit bekam Ela, die am Dachboden der Hütte bereits schlief, einen Schreikrampf, als sich ein beflügelter Weberknecht auf ihre Nase setzte. Ich drückte den Spargel in Kaths Hand.
„Den schenk ich dir als Erinnerung. Viel Spaß noch damit.“
Es war nun endgültig hell, die Terrasse ein Schlachtfeld, überall lagen weiße Becher und leere Vodkaflaschen über den Boden verteilt.
„Du gehst schon?“, fragte Kath. Ich nickte. Sie hob den Spargel zum Gruß, sah mich einen endlosen Moment lang ratlos an. Dann drehte sie sich um und ging in Richtung Hütte.
„Gute Nacht!“, rief ich ihr nach. In dem Moment klingelte die Weckfunktion meines Handys. „Gute Nacht“, dachte ich und fragte mich, warum Ronny schon so bald gefahren war.
*Bernhard Straßer, Jahrgang 1978 , wuchs in Kirchanschöring auf. Während eines USA-Aufenthaltes lernte er Creative Writing und bildete sich später in Kursen von Arwed Vogel, Ursula Krechel und Norbert Niemann zum Schriftsteller weiter. Seine Texte sind im Lichtung-Verlag, dem Magazin Muh und im Selbstverlag erschienen. Der studierte Verwaltungsfachwirt arbeitet als Berufsberater und lebt mit seiner Familie in Traunstein. Seine Texte sind auf www.chiemgauseiten.de/kurzgeschichten nachzulesen.