Mann, der Alkohol

Fast wie Geröll, das in einer ohrenbetäubenden Lautstärke einen Felskamm in der Ferne heruntergepoltert kam, hörte sich sein Rülpser, der die leeren Biergläser oben auf der Ablage zum Erschüttern brachte, von meinem Platz aus an. Die wenigen Gäste, die zu so später Stunde noch in dieser abgeratzten Spelunke hockten, nahmen keinen Anstoß daran. Den ganzen Abend schon beschäftigte mich der Kerl. Gegen halb neun war er sturzbetrunken reingestolpert, hatte dem Kellner solange das Ohr abgenagt, bis der ihm noch ein weiteres Bier hingestellt hatte und war dann, nach dem ersten Schluck, kurzerhand auf der Theke eingeschlafen.

Jetzt, etwa drei Stunden später, war er wieder zu sich gekommen und das erste, was die Welt nach seinem Dornröschenschlaf von ihm hören sollte, war dieser gigantische Rülpser. Wenn der Alkohol eine Person gewesen wäre, so hätte er bestimmt wie dieser Typ ausgehen. Sein Gesicht hatte die Farbe einer roten Bratwurst, die zu lange auf dem Grill gelegen hatte, war ebenso fettig und an manchen Stellen hatten sich große Furunkel gebildet. Seine Gichtpranken hingen über den Tresen, als könnte er sie nicht mehr anheben, sein schmutziges Hemd sonderte einen Geruch ab, als hätte er es aus dem Abfluss dieser Kneipe gezogen.

Angestrengt schnaubend, den Mund weit offen, um mehr Luft in die Lungen zu bekommen, schaute über den Tresen nach der Uhr hin. Wahrscheinlich rekonstruierte er die letzten Stunden in seinem durchweichten Gehirn oder versuchte es wenigstens, sein gequälter Ausdruck sah nicht gerade erfolgversprechend aus. Plötzlich änderte sich sein Blick, in seinem Gesicht trat tiefe Reue zu Tage. Er klatsche sich selbstläuternd mit der Hand gegen den Kopf. Doch der Gedanke verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Scheinbar war an dem, was ihm eben eingefallen war, sowieso nichts mehr zu ändern.

Mit trübem Blick scannte er seine Umgebung, wie um abschzuschätzen, wie tief er dieses Mal gesunken war. Es hätte schlimmer sein können, dachte ich, diese Kneipe wurde wenigstens von einer Biermarke gesponsert. Da gab es durchaus schlimmere in der Stadt. Jede Bewegung, die er tat, verlangte ihm die größte Anstrengung ab. So brauchte er fast eine ganze Minute, um seinen vom Schlaf zusammengefallenen Körper wieder aufzurichten und sich halbwegs gerade auf der kleinen Bank, die er für sich beanspruchte, hinzusetzen.

Nachdem das geschafft war, verschwand sein Finger erst mal im Ohr, um irgendeinen Dreck rauszukratzen, den er unverhohlen an seiner Hose abschmierte. Dann vernahm ich ein saugendes Geräusch und glaubte, der Abzug in der kleinen Küche gegenüber sei angegangen, doch es war er, der den Mund weit zu einem trägen Gähnen aufriss. Von wo aus ich saß, glaubte ich, bis in die Hölle hinabsehen zu können, so schwarz und tief war sein Schlund. Nachdem er sich die letzten Speichelreste seines sabbernden Schlafes aus den Mundwinkeln gewischt hatte, war er wieder einigermaßen hergestellt. Ein kräftiger Schluck aus seinem Bierglas, das immer noch fast voll war, tat das Übrige.

Das Bier schien das Vakuum, das eben durch das Gähnen entstanden war, wieder aufzufüllen und verschwand mit einem langgezogen, genussvollen „Ahhh“ im Abgrund seines Schlunds. Runter bis in die Hölle. Als er anfing, nun etwas fokussierter, seinen Blick durch die Bar schweifen zu lassen, blickte ich starr auf mein Bier herunter. Ich saß ihm direkt gegenüber und war damit der Einzige in Gesprächsreichweite. Zum Glück war er nicht in der Verfassung, sich zu unterhalten. Sein dreckiges, durch die Luftknappheit abgehacktes Lachen, bei dem er mehr Luft einsog als er ausstieß, ließ mich wieder aufblicken.

Er saß über sein Handy gebeugt, auf dem ihn offensichtlich eine lustige Nachricht erreicht hatte. Auf seiner Brille hockte eine kleine Lesebrille, die er vor lauter Lachen abnehmen musste, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Beim Lachen sah er aus wie ein pulsierender Fleischkloß, der jeden Moment auseinanderplatzt. In diesem Moment ging die Tür auf und dürrer Kerl in Jeansjacke mit Schnauzbart trat herein. Er setzte ich zwischen uns an den Tresen und bestellte mit einer bloßen Bewegung seines Kopfes ein Bier. Der Wirt, der bis eben am Automaten gezockt und sich erst, als der Alte anfing zu lachen, mal wieder hinter der Theke hatte blicken lassen, stellte ihm das frischgezapfte Bier hin und fragte uns, ob wir noch eins wollten. Wir verneinten beide mit einem Kopfschütteln, woraufhin er sich wieder zu den Spielautomaten verzog.

Allein, zu dritt, schlürften wir im Stillen unser Bier, immer wieder durch kurze, spontane Lachanfälle des Alten unterbrochen, wenn seine Gedanken zurück zu der Nachricht wanderten. Der Dürre, irgendwie in Gedanken versunken, hatte wohl einen schlechten Tag gehabt. Er warf dem Alten während seinen Lachanfällen immer wieder abfällige Blicke zu. Das konnte noch heiter werden, dachte ich, und sackte weiter in meinen Stuhl. Als hätte ich es geahnt, begann der Alte plötzlich mit dem Dürren zu reden. „He, kommst du vom Sportplatz her?“, wollte er von ihm wissen. Der Dürre antwortete nicht gleich, sondern sah den alten missbilligend an. Der, völlig ungeniert, fuhr fort: „Ich mein nur, kommst du aus Richtung Sportheim? Hier, ich hab’s grad auf Facebook gelesen.“

Er hielt dem Dürren zum Beweis das Handy hin, sodass dieser sich selbst überzeugen konnte. Scheinbar wusste dieser aber schon Bescheid und schien jetzt, als er wusste, worauf der Alte hinauswollte, doch bereit, sich darüber zu unterhalten. Er klang erschöpft, als er sprach: „So Leute sollte man aus dem Verkehr ziehen. In die Geschlossene und Tür zu…“
Jetzt wurde ich hellhörig, ich wusste nicht, auf was sich die beiden bezogen. Der Alte, der nur einen Grund gesucht zu haben schien, wieder in einen heftigen Lachanfall zu verfallen, prustete los, schlug auf den Tresen und erwiderte endlich, nachdem er sich etwas gefangen hatte: „Hahahaha, komm schon, das ist der Brüller!“

In den Augen des Dürren blitzte etwas wie angestaute Wut auf, die aber nicht dem Alten galt, sondern der Sache, über die sie sich unterhielten. Offenbar musste er darin involviert gewesen sein. Da er nicht weiter auf den Kommentar des Alten einging, beschloss ich selbst nachzusehen, was vorgefallen war, holte mein Handy aus der Tasche und loggte mich in Facebook ein. Nichts von Interesse, bis ich bei einer Nachricht der örtlichen Polizei Halt machte: „Betrunkener rast in Hausmeisterwohnung. Achtung: es wird nach einem flüchtigen, vermeintlich betrunkenen Mann gefahndet, der heute Abend in die Hausmeisterwohnung bei den Sportanlagen gerast ist. Noch bevor der Besitzer realisierte, was passiert war, war der Verdächtige geflüchtet. Aktuell wird nach Hinweisen zum Aufenthaltsort des Mannes gesucht…“, weiter las ich nicht, denn erneut prustete der Alte los.

„Da fährt einer in ein Haus und haut dann ab!“, verkündete er fast mit etwas Neid in der Stimme. Der Dürre, sichtlich gereizt durch die Belustigung des Alten, schlug aus heiterem Himmel mit der Faust auf den Tisch und sagte mit zorniger Entschlossenheit: „Das Arschloch! Wenn ich den krieg, reiß ich ihm die Zähne raus!“
Der Alte, völlig perplex von dieser Reaktion, wurde schlagartig still. Neugierig sah er den Dürren an, als würde er nach der Erlaubnis suchen, um weiterlachen zu dürfen. Doch dieser, jetzt so richtig in Fahrt, konnte nicht länger an sich halten:

„Ja, witzig sowas, wenn es einem Anderen passiert. Was glaubst du, das war meine Wohnung, in die das Arschloch reingebrettert ist! Ich steh in der Küche, da bricht auf einmal die Hölle los und ich denk, das war’s, und stürzte mich auf den Boden. Alles voller Staub, ich denk, ne Bombe hat eingeschlagen. Da kuck ich, ob alles noch dran ist und danke Gott, dass ich noch lebe, aber als ich ins Wohnzimmer komme, da trifft mich der Blitz. Da steht ein Auto im Wohnzimmer, voll durch die Scheiben gebrettert. Alles am Arsch, überall Scherben, der Fernseher ein Haufen Schrott. Da denk ich, ich schnapp mir den, egal ob verletzt oder nicht und reiß ihm den Kopf ab. Aber da war keiner! Niemand, Fahrertür offen. Der Wichser hat sich aus dem Staub gemacht. Tja, also renn ich raus und schau, ob ich ihn noch seh, aber der ist über alle Berge. Also ruf ich die Polizei und die Rücken gleich mit Sonderkommando und Feuerwehr an und nehmen mir die Bude auseinander. Schöne Scheiße, jetzt muss ich im Hotel pennen heute Nacht, weil da ein riesen Loch in meinem Haus ist und die die Spuren sichern müssen. Der Trottel kommt eh nicht weit, die Nummernschilder waren doch am Wagen. Mir egal, wenn ich in den Knast geh, den Typ bring ich eigenhändig um!“

Spätestens jetzt war dem Alten das Lachen vergangen, obwohl in seinen Augen noch deutlich zu sehen war, wie er innerlich über die Geschichte dachte. Doch selbst in seinem Zustand wollte er keinen Mann auslachen, dessen Zuhause eben zerstört worden war. In diesem Moment klingelte ein Telefon. Wir alle schauten nach unseren Handys, doch es war keines der unseren. Der Wirt kam hinter die Theke gesprintet, nahm das Haustelefon von der Ablage und nahm ab. Gespannt sahen wir in sein Gesicht, das mit konzentrierter Miene der Stimme am Telefon lauschte. „Gut, ich melde mich, wenn ich was sehen sollte…“, sagte er endlich und legte auf. „Habt ihr das mitbekommen?“, fragte er erstaunt in die Runde, „unten am Sportplatz ist einer in ein Haus gefahren. Die Polizei sucht überall nach ihm. Anscheinend gibt es jetzt eine Fahndungsskizze, hat mir der Polizist am Telefon gerade gesagt. Welcher Trottel hockt denn in die Kneipe, wenn er durch eine Hauswand gedonnert ist?“

Der Alte musst bei dieser Anmerkung kurz auflachen und fing sich einen giftigen Blick des Hausmeisters ein, der dann dem Wirt auseinanderlegte, was genau vorgefallen war. Betroffen hörte dieser zu und entschuldigte sich mehrmals bei diesem für seine Taktlosigkeit. Um aus der unangenehmen Situationen herauszukommen, schlug er vor, sich auf Facebook das Täterbild anzusehen. Ich bemerkte, dass ich bereits auf Facebook war, woraufhin der Kellner und der Hausmeister sich um mich scharten. Es dauerte wegen des schlechten Empfangs etwas, bis das Bild geladen hatte, doch dann packte uns alle drei der Schock, als wir das Gesicht sahen.

Im nächsten Moment nahm ich eine ruckartige Bewegung neben mir war. Der Hausmeister stürmte in Richtung des Alten los und der Wirt konnte gerade noch über die Theke greifen und ihn an der Jacke festhalten, bevor er die Chance hatte, seiner Wut ein Ventil zu geben. Der Alte blickte völlig verdattert drein. Der Hausmeister wandte sich und brüllte und schlug mit den Fäusten um sich. Schließlich befreite er sich aus der Jacke und stürmte los. Der erste Schlag traf den Alten direkt am Kinn, der zweit verfehlte nur knapp sein Ohr. In diesem Moment sprang der Wirt über die Theke und schob sich schützend vor den Alten. Ich eilte dem Wirt zur Hilfe und zog den Hausmeister von den beiden weg. Die anderen Gäste sprangen jetzt ebenfalls auf und bildeten eine Schutzmauer zwischen dem Alten und dem Wirt und mir und dem Hausmeister.

Obwohl dieser dünn und drahtig war, hatte ich alle Mühe, ihn festzuhalten. Die, die nicht mitbekommen hatten, was vorgefallen war, dachten der Hausmeister sei der Übeltäter und warfen ihm wüste Worte an den Kopf, den alten Mann so anzugreifen. Als der aber zwischen seinen Morddrohungen und Beleidigungen den Anwesenden in seiner hysterisch schreienden Stimme offenlegte, was passiert war, änderte sich die Stimmung. Endlich dämmerte auch dem Alten, was gerade passiert war. Sein Gesicht fror ein, während die kurzweilig verdrängten Erinnerungen den Weg zurück in sein Bewusstsein fanden.
„Tut mir leid! Oh, wie schrecklich, ich alter Säufer!“, schrie er immer wieder und fasste sich verständnislos an den Kopf.

Ein anderer Gast musste mir helfen, den Hausmeister zu bändigen. Gemeinsam verfrachteten wir ihn vor die Tür, um die Lage zu entspannen, während jemand anderes gerade die Polizei anrief. Draußen gingen die Beleidigungen weiter und galten inzwischen nicht mehr nur dem Alten, sondern richteten sich ganz offenkundig gegen uns. Es war ihm egal, was mit ihm sein würde, aber den Alten würde er auf der Stelle umbringen. Was es uns Arschlöcher anginge, ob er einen Mord beginge oder nicht. In der Ferne waren schon die Sirenen zu hören.

Zum Glück brauchte der erste Streifenwagen nicht lange, bis er bei uns angelangt war, da überall in der Stadt Polizei unterwegs war. Die beiden Polizisten kamen aus dem Wagen gesprungen, woraufhin der Hausmeister sich endlich beruhigte. Immer noch durch unsere Griffe fixiert, traten wir mit ihm den Polizisten entgegen und versuchten in halbwegs verständlichen Sätzen zu erklären, was passiert war. Der Hausmeister versprach unter den drohenden Blicken der Polizisten schließlich, sich zu beruhigen, sodass wir endlich von ihm lassen konnten.

Einen Moment später rückte Verstärkung an, zwei weitere Streifenwagen kamen auf den Platz gefahren. Wir teilten ihnen mit, dass die gesuchte Person sich im Inneren befand, woraufhin sofort drei Mann die Kneipe stürmten. Der Rest blieb bei uns und stellte sicher, dass der Hausmeister sich benahm. Sie nahmen unsere Aussagen auf und staunten nicht schlecht über die unwahrscheinliche Begegnung. Der Hausmeister brachte vor lauter Wut kein Wort heraus.

Als der Alte schließlich aus der Kneipe geführt wurde, stürzte er ohne Vorwarnung auf ihn zu, wurde aber sofort von drei Polizisten abgefangen und niedergerungen. Schließlich legten sie ihm Handschellen an und verfrachteten ihn ins Auto. Dann führten sie den Alten zu einem anderen Streifenwagen und schafften die beiden auf die Wache.

Die zurückgebliebenen Polizisten nahmen noch die Aussagen aller Anwesenden auf und folgten schließlich den Kollegen. Nachdem alles vorbei war, zahlte ich die Rechnung und ging mit einem merkwürdigen Gefühl nach Hause. 

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Von Lukas Böhl

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