Ein Stück Leben

Sie wollte nur wissen, ob ich fünf Minuten Zeit hätte. Es war aus Mitleid, dass ich stehen blieb und ihr zuhörte. Die Sonne knallte erbarmungslos vom Himmel, ihre Stirn war tropfnass. Unter der orangenen Weste war es vermutlich unerträglich heiß. Mit Sicherheit war ich der Erste an diesem Tag, der anhielt. Sie war sichtlich erleichtert, dass endlich jemand ein Ohr für ihr Anliegen hatte."

In Gedanken formulierte ich bereits eine passende Ausrede. Warum ich heute leider nicht spenden konnte. Dass die Sache an sich aber eine gute sei und ich in Zukunft bestimmt mal ein paar Mücken locker machen würde.

Doch anstatt mich vollzuquatschen, führte sie mich unter ihren orangenen Pavillon. Dort stand auf einem Stehtisch ein Marmorkuchen auf einem Teller bereit. Sie stellte sich auf die andere Seite des Tisches und legte direkt los:

„Dieser Kuchen hier stellt unser Leben dar.“

Dann nahm sie ein Messer und schnitt etwa ein Drittel des Kuchens ab.

„Das ist die Zeit, die wir mit Schlafen verbringen“, sagte sie und legte das Stück auf einen anderen Teller.

Anschließend schnitt sie ein weiteres Drittel ab.

„Dieser Teil steht für die Arbeit.“

Was nun noch übrig blieb, war das, was wir wirklich vom Leben haben – die freie Zeit, die uns zur Verfügung steht.

Doch so einfach war es nicht.

Jetzt begann sie, nach und nach schmale Stücke des verbliebenen Kuchens abzutrennen. Ein Stück stand für die Zeit, die wir am Handy verbringen. Ein anderes für all die Momente, in denen wir Haushaltsaufgaben und andere Notwendigkeiten erledigen. Es folgten: Körperhygiene, Warten auf Öffis, Warten in Warteräumen, in Warteschleifen. Und all die Dinge, die einfach passieren, ohne dass wir sie wollen und auf die wir nur reagieren können.

Als kaum mehr etwas vom Kuchen übrig war, dachte ich, dass es nun vorbei wäre. Das, was noch auf dem Teller lag, hätte ich mit einem Haps runterschlucken können. Ohne zu kauen. Puff. Und weg. Aus mit dem Leben.

Aber sie war noch nicht fertig.

Sie setzte das Messer noch einmal an, ließ es durch das winzige Stückchen Kuchen gleiten und sagte:

„Das ist die Zeit, die wir damit verschwenden, den Ansprüchen anderer gerecht zu werden. Und die Zeit, die wir damit vergeuden, zu glauben, wir müssten etwas sein, das wir nicht sind.“

Im Gegensatz zu den anderen Aussagen war diese nicht einstudiert. Das hatte sie sich selbst ausgedacht. Und es gefiel mir am besten. Damit konnte ich mich identifizieren.

Jetzt wollte ich aber wissen, warum sie mich überhaupt angehalten hatte.

„Wir helfen dir dabei, deine Zeit für etwas Sinnvolles einzusetzen“, sagte sie. Wieder einstudiert. Erwartungsvoll sah sie mir in die Augen.

Ich griff nach dem winzigen Stück Kuchen und schob es mir in den Mund. Ich musste nicht mal kauen. Als ich geschluckt hatte, sagte ich:

„Wenn das mein Leben war, sollte ich jetzt wirklich damit anfangen zu leben.“

Sie lachte. „Ich auch.“

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Von Lukas Böhl

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