Die Schlange und die Sucht

Wieder sitze ich da und überlege, mit welchem Freund ich heute Abend wie viele Gläser über den Durst trinken könnte. Mit dem einen wären’s vielleicht zwei, mit dem anderen so viele, bis einer umkippt. Verlockend, aber nicht zielführend. Nein, noch einen Tag halte ich das nicht aus. Ein volles Auto kann man schließlich auch nicht ständig volltanken. Man muss damit fahren oder etwas Benzin absaugen. Und ich muss etwas loswerden. Aber wo?"

Ich steige ins Auto. Es ist unerträglich heiß. Die Welt liegt vor meinen Augen wie in einem überhitzten Backofen. Auf dem Asphalt bilden sich in der Ferne Wellen. Kein Mensch traut sich heraus. Ich fahre die Straße entlang, die aus der Stadt herausführt. Es sind nur zwei Kilometer, dann erscheint auf der rechten Seite das Schild „Zur Mülldeponie“. Ich biege ab. Dort hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Scheint, als hätten die Leute ausgemistet. Irgendwann komme ich dran und werde gefragt, was ich zu entsorgen habe. Mein Auto ist leer. Ich sehe dem Mann in die Augen und sage: „Ich will etwas loswerden, das in keine Tonne passt.“ Der Kerl schaut mich verdutzt an. Einen Moment später scheint er zu verstehen, drückt einen Knopf unter der Theke und weist mich an, geradeaus durchzufahren und dann links abzubiegen. Ich folge seiner Anweisung und bin eine ganze Weile unterwegs. Wer hätte gedacht, dass dieser Schrottplatz so groß ist?

Am Ende des Weges stoße ich endlich auf ein kleines Häuschen, nicht größer als eine mobile Toilette. Das Auto lasse ich stehen und laufe die letzten Meter. Vor dem Häuschen halte ich kurz inne und lausche. Als ich anklopfen will, öffnet sich die Tür von alleine. Im Inneren ist keine Einrichtung, nur ein kleiner Hebel an der Wand. Vorsichtig trete ich ein und sehe mich um. Plötzlich schnappt die Tür zu und ich spüre, wie sich der Boden unter mir in Bewegung setzt. Es geht abwärts. Als der Aufzug anhält, tut sich vor mir eine metallene Schiebetür auf und eröffnet mir die Sicht auf einen winzigen Raum. Darin steht nur ein kleiner Schreibtisch mit einem schäbigen Rattanstuhl davor. Dahinter sitzt eine Gestalt und macht Notizen.

„Eintreten“, vernehme ich plötzlich ihre säuselnde Stimme. Ich leiste Folge und trete ein. Da hebt mein Gegenüber den Kopf und ich erkenne ihn endlich. Es ist der Schlangenmann. Bei unserer letzten Begegnung hatte er mich vor einer Bar abgefangen und behauptet, er könne mir helfen, meine Sucht zu überwinden. Da sitzt er nun und starrt mich mit seinen giftig gelben Augen an.

„Sssssei mir willkommen, mein Freund! Du bissssst also meiner Einladung gefolgt!“

„Ja, denn ich bekomme mein Alkoholproblem nicht in den Griff. Was kannst du für mich tun, Schlangenmann? Und verarsch mich nicht!“

„Wir Schlangen haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Ich kann viele Probleme lösen. Hier ist fast jeden Tag ein Klient. Und heute will ich dir helfen!“

„Was kann ich tun?“

„Sssssieh mal, mein Freund! Du denkst, du bist süchtig. Du denkst, du hast ein Problem. Du denkst, du bist nicht normal und musst dich ändern.“

„Ja, richtig. Ich habe ein großes Problem.“

„Und du willst nicht mehr süchtig sein?“

„Genau.“

„Dann akzeptiere deine Sucht als das neue Normal. Und du bist geheilt, mein Freund!“

„Was soll das denn für ein Vorschlag sein? Das ist total dämlich!“

„Nein, du bist dämlich! Ihr Menschen kreiert die Welt, in der ihr lebt, in euren Köpfen! Ihr könnt alles sein, was ihr wollt. Wenn du nicht mehr süchtig sein willst, dann sei es nicht mehr! Akzeptiere die Sucht als einen Teil von dir und du hast kein Problem mehr!“

„So einen Verbaldurchfall habe ich noch nie gehört! Du bist ein Scharlatan! Ich gehe!“

„Halt!“

„Was ist denn?“

„Schau mir nochmal tief in die Augen?“

„Wwwas…? Oh. OH!“

„Du bist geheilt! Und jetzt geh!“

Ich steige wieder in den Aufzug, fahre nach oben und setze mich ins Auto. Wie von Geisterhand fahre ich los und steuere direkt die nächste Kneipe an. Ich fühle mich gut. Das Leben ist schön wie dreizehn frischgezapfte Bier.

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Von Lukas Böhl

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