Der Friedhof des Verstandes

Draußen war ein Scharren zu hören. Metall auf Stein, Metall auf Erde. Dann war es leise. Ich schlich ans Fenster und schaute. Dort stand ein Mann ohne Kopf, der ein Grab für etwas auszuheben schien, das zu seinen Füßen in einem schäbigen Pappkarton lag. Nicht ungewöhnlicher als den Mist, den man sonst so in den Medien zu sehen bekam. Dennoch war ich neugierig, was sich in dem Karton befand und beschloss, zu ihm runterzugehen.

Nachdem ich mir Schuhe und eine Jacke angezogen hatte, ging ich raus. Auf dem Grundstück hinter dem Garten angekommen, lief ich so auf ihn zu, dass die Augen seines nicht vorhandenen Kopfes mich gesehen hätten, wären sie noch dort gewesen. Ich wollte mir trotz seiner ungewöhnlichen Erscheinung etwas Anstand bewahren. Er aber schien ganz vertieft in seiner Arbeit und hackte energisch auf einige Steine im Boden ein, die sich nicht lösen wollten."

Von dort, wo ich jetzt stand, konnte ich den Inhalt des Kartons nicht erspähen. Nach einigem Zögern machte ich schließlich einen Bogen um das vermeintliche Grab und platzierte mich hinter dem Totengräber, um einen Blick in den improvisierten Sarg zu werfen. Und dann sah ich, was ich mir bereits hätte denken können. In diesem vermoderten, mit Staub bedeckten Karton lag ein Kopf, allem Anschein nach der seine. Ich schluckte. Nun wurde mir doch etwas mulmig zumute. Was ging hier vor sich?

Auf einmal hörte ich eine Stimme, mein Herz sprang mit voller Wucht gegen meinen Brustkorb. Erschrocken sah ich mich zu allen Seiten um. Doch außer mir, dem Kopflosen und dem Kopf war niemand hier. Auch an den Fenstern bekundete niemand Interesse für das absurde Schauspiel, das sich hier bot. Ich tat es als Hirngespinst ab, während ich mich wieder dem Schaufelnden zuwandte. Das Loch war noch nicht tief genug, um den Karton darin zu versenken.

Plötzlich riss mich erneut eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich glaubte, eine Bewegung im Augenwinkel wahrgenommen zu haben und schielte nach unten. Jetzt sah ich es, der Mund des Kopfes bewegte sich. Vor lauter Schreck fiel ich rücklings ins Gras. War das echt? Hatte der Kopf gerade gesprochen? Vorsichtig kroch ich auf allen vieren zum Karton, um mich zu vergewissern. Dort lag er, in seinem eigenen Blut, das Haar schmutzig und verfettet mit Spinnweben und Staubmäusen darin. Während ich noch seine verformten Ohren anstarrte, hörte ich ihn auf einmal sagen: „Schau mich nicht so an!“

„Tut mir leid!“, stammelte ich.

„Macht ja nichts. Ein Todgeweihter hat es nicht verdient, eine Entschuldigung zu erwarten.“

„Was passiert hier?“

„Das sehen Sie doch. Mein Körper schaufelt ein Grab für mich. Er hat sich endlich der Last seines Verstandes entledigt.“

„Warum haben Sie sich nicht gewehrt?“

„Sehen Sie sich meine Ohren an! Er hat so lange daran gezogen, bis ich das Ziehen im Hals spürte, dann ein heftiges Knacken und Krachen hörte, und ehe ich es mir versah, lag ich in dieser Box. Heute Morgen hat er wohl beschlossen, dass ich lange genug Staub im Keller war, und will mich jetzt endgültig loswerden.“

„Das ist doch absurd…“

„Ist es das? Vielleicht ist es unter der Erde besser als darüber. Das hat er nur gemacht, weil ein Präsident sich im Fernsehen die Hand abgefressen und sein Smartphone in den Stumpen gesteckt hat. Dazu hat er ausgerufen: ‚Free the body of the burden of your mind!‘ Triumphierendes Lächeln, die Menge jubelte und einen Moment später begann das Ziehen. Ich hätte es kommen sehen müssen. Ehrlicherweise habe ich ihn schon vor langer Zeit verloren an den Alkohol, leichte Unterhaltung und skrupellose Rattenfänger.“

„Das ist ja furchtbar! Kann ich denn nichts für Sie tun?“

„Das Einzige, was Sie für mich tun können, ist aufzupassen, dass Ihnen nicht dasselbe widerfährt.“

„Und wenn ich Sie einfach wieder auf Ihren Körper draufstecke?“

„Wir sind nicht mehr kompatibel. Er ist jetzt ein rein technisches Wesen, das einem Programm Folge leistet, nur eines von vielen Werkzeugen in einem riesigen Werkzeugkasten, mit dem die Welt nach und nach dämonisiert, demoralisiert und demontiert wird.“

„Sie haben keine Hoffnung mehr, oder?“

„Doch, die habe ich: Bald in diesem Loch zu verrotten.“

„Dann kann ich nichts mehr für Sie tun.“

„Dann können Sie nichts mehr für sich tun.“

„Was? He? Was soll das?!“

In diesem Moment nahm der Körper den Karton mit dem Kopf, verschloss ihn, schmiss ihn achtlos in das Erdloch und begann damit, ihn zuzuschaufeln. Voller Verzweiflung sah ich der absonderlichen Beerdigung zu. Mit jedem Erdwurf verschwand ein bisschen mehr des Kopfes und er klagte nicht einmal mehr. Als das Loch komplett verschlossen war, klopfte der Körper die lose Erde mit seinen schweren Stiefeln glatt. In diesem Moment überkam mich ein so starker Hass, dass ich ohne Ankündigung auf ihn losstürmte und ihn zu Boden warf. Es entbrannte eine brutale Schlägerei. Ein Begräbnis von Logik und Vernunft auf dem Friedhof des Verstandes.

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Von Lukas Böhl

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