Will man in einer Großstadt den Menschen entkommen, steigt man in ein Taxi. Leider muss man mit dem Taxi irgendwohin fahren und kann sich nicht ziellos durch die Gegend kutschieren lassen. Genau vor diesem Dilemma stand ich. Seit ich eingestiegen war, hatte ich noch kein Wort außer „Hallo“ gesagt. Der Fahrer, der laut seinem Namensschild Karlheinz hieß, sah mich stillschweigend an. Er wartete auf eine Antwort, die ich nicht hatte. Was sollte ich ihm sagen? „Ich bin nur hier eingestiegen, um melancholisch aus dem Fenster zu schauen“?
Nachdem einige Minuten vergangen waren, sagte Karlheinz schließlich:
„Junge, bist du stumm? Wenn du nirgends hin musst, gibt es andere Fahrgäste, die wissen, wo sie hinwollen.“
„Können wir nicht einfach ein bisschen rumfahren?“, rutschte es mir heraus.
„Einfach ein bisschen rumfahren? Denkst du, das hier ist einer von den roten Bussen, die Touristen durch die Stadt karren? Nee, im Taxi hat man ein Ziel, und da wird hingefahren. Dann wird bezahlt und das war’s. Also, wo willst du hin?“
„Ich geb Ihnen 50 Euro, wenn Sie mich einfach nur durch die Stadt fahren.“
„50? Na, das ist so viel wert wie eine Fahrt zum Flughafen. Ist eh ruhig heute. Aber komisch ist das schon. Mit 50 Euro könntest du dich auch dort in der Kneipe volllaufen lassen oder dort in dem Restaurant was essen.“
„Nee, will ich nicht. Ich will mir die Stadt durch das Fenster von diesem Taxi anschauen. Hier ist das Geld.“
Ich gab ihm den 50-Euro-Schein. Skeptisch nahm er ihn entgegen und musterte ihn, als hätte er noch nie einen gesehen. Schließlich steckte er ihn sich in die Hemdtasche und nickte.
„Also, du Sonderling. Dann fahren wir mal los. Ich weiß ja ungefähr, wie lange 50 Euro reichen.“
„Ich hab noch mehr Bargeld dabei, wenn es nicht reichen sollte.“
Karlheinz schaute ungläubig nach hinten. In seinen Augen war neben Verwirrung auch Zorn zu erkennen. Wahrscheinlich regte es ihn auf, dass jemand so viel Geld einfach verschleudern wollte. Auf der anderen Seite war es ein gutes Geschäft für ihn. Wortlos drehte er sich wieder um, startete den Motor und rollte langsam vom Taxiparkplatz.
Wir fuhren unter den Hochhäusern hindurch, die bei Nacht wie schwarze Felssäulen aussahen. In einigen der Scheiben brannten noch Lichter. Jemand machte wohl Überstunden. Hinter dem Taxifenster wirkten die Leute so weit weg, fast wie im Fernsehen. Die Gerüche und Geräusche waren hinter einer dicken Kristallwand eingesperrt. Hier drinnen empfand ich Sicherheit. Ich war da, aber nur als Beobachter. Musste mich nicht auf die Grobheit der Stadt einlassen.
Wir fuhren eine ganze Weile geradeaus, bevor wir das erste Mal rechts abbogen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, aber Karlheinz schien den Weg zu kennen. Ab und zu schielte er über den Rückspiegel nach hinten. Ich dachte, er war misstrauisch. Wahrscheinlich glaubte er, dass irgendwas mit mir nicht stimmte und eine böse Überraschung auf ihn wartete. Doch ich ließ mich von seinen Blicken nicht beirren, sondern starrte weiter auf die Welt, die an mir vorbeizog.
Wir hatten die Hochhäuser hinter uns gelassen. Inzwischen waren wir in einem offensichtlich schlechteren Teil der Stadt angelangt. Auf der Straße sah man offenen Drogenkonsum, urinierende Menschen und herumlungernde Jugendliche. Jedes Mal, wenn wir an einer Ampel anhielten, befürchtete ich, dass jemand die Tür aufreißen und mich rausziehen würde. So wie in GTA damals. Aber es passierte nichts. Wir fuhren weiter gemächlich durch die Stadt. Das Taxameter kletterte langsam, aber stetig nach oben.
Als die 50 Euro fast erreicht waren, reichte ich einen 100-Euro-Schein zwischen den Sitzen nach vorn. Karlheinz drehte nur leicht den Kopf, schnappte ihn sich geschickt mit zwei Fingern und steckte ihn in die Hemdtasche zu dem Fünfziger. Für ihn war es kein schlechter Deal. Wer weiß, ob er in dieser Nacht sonst überhaupt noch einen Gast gehabt hätte. Also fuhren wir weiter, ohne dass einer von uns beiden auch nur ein Wort sprach.
Indes gab es genug zu sehen dort draußen. Die Nacht schaffte es immer wieder, eine Stadt und ihre Bewohner zu verwandeln. Diese Leute hier waren nicht dieselben, denen man am Tag begegnete. Sie waren brutaler, ungeschminkter und ehrlicher. Aus sicherer Distanz wirkte alles wie ein Film. Aber diese Leute lebten wirklich so – injizierten zwischen Mülltonnen und Urinpfützen Heroin, während ich hier drinnen saß. Der Beobachter, für den alles nur ein Spiel war. Ich sah sie, aber es berührte mich nicht. Ich hörte sie, aber es betraf mich nicht.
Doch es war genug des Elends. Ich bat Karlheinz, etwas weiter rauszufahren, in die Vorstädte. Ich wollte wissen, was dort um diese Uhrzeit vor sich ging. Karlheinz bestätigte meinen Wunsch mit einem Nicken. Dabei drehte er das Radio lauter, als stellte er sich auf eine lange Nacht ein. Konnte diese Nacht noch länger werden?
Je weiter man sich vom Stadtkern entfernte, desto niedriger wurden die Häuser, desto leerer die Straßen, desto gesitteter die Menschen, die man noch sah. Hier nutzte man die Straße, um von A nach B zu kommen, nicht als Aufenthalts- oder Wohnort. Dafür hatte man große Häuser oder Wohnungen. Die meisten Ampeln waren jetzt ausgeschaltet. Für die wenigen Autos, die noch unterwegs waren, lohnte sich der Betrieb nicht. Und so kamen wir schnell voran.
Karlheinz fuhr mit einer stoischen Ruhe, als sei das hier seine ganz eigene Meditation. Das Radio spielte einen alten Schlager, den er gelegentlich mit einem Nicken begleitete, als wollte er mir sagen: „Na, das ist doch Musik.“ Ich hingegen saß hinten und schaute weiter stumm aus dem Fenster. Draußen: nur schwach beleuchtete Straßenzüge, Gewerbegebiete, verlassene Tankstellen. Die Stadt war hier zu Ende, und nichts begann.
„Noch weiter raus?“, fragte Karlheinz plötzlich, ohne sich umzudrehen.
„Ein Stück noch. Vielleicht bis dort hinten zum Wald. Ich zahl auch.“
„Geht nicht ums Geld, Junge“, sagte er. „Irgendwann ist einfach Schluss.“
Ich wusste nicht, ob er damit das Ende der Fahrt meinte – oder etwas anderes.
Wir fuhren noch ein paar Minuten, bis das letzte Straßenlicht hinter uns lag. Nur noch die Scheinwerfer schnitten durch das Schwarz. Eine einzelne Landstraße, auf beiden Seiten Bäume, und in der Ferne das leise, flirrende Licht eines Sendemasts.
„Willst du hier irgendwo raus oder bleibst du sitzen, bis ich eine Schleife drehe?“, fragte er.
Ich überlegte. Dann sagte ich: „Drehen Sie eine Schleife. Ich will nur kurz die Fenster runterkurbeln und die Luft riechen.“
„Die Luft? Stinkt hier nach abgestorbenem Laub und Gülle.“
Ich sagte nichts. Er zuckte mit den Schultern und fuhr langsamer. Ich öffnete das Fenster. Eine kühle Windböe fuhr mir durchs Gesicht. Es roch tatsächlich nach feuchter Erde, nach abgeernteten Feldern, nach etwas, das ganz und gar nicht Großstadt war. Irgendwo in der Dunkelheit rief ein Vogel. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Für einen Moment war ich nicht mehr im Taxi, nicht mehr in der Stadt, nicht mehr jemand, der nichts zu sagen hatte.
Plötzlich hörte ich, wie Karlheinz bremste. Das Auto kam zum Stehen.
„Was ist los?“, fragte ich, ohne die Augen zu öffnen.
„Da steht einer.“
Ich öffnete die Augen. Vor uns am Straßenrand, direkt am Waldrand, stand ein Mann. Nicht besonders auffällig. Dunkle Kleidung, nichts in der Hand, kein Gepäck. Er hob die Hand, als wolle er uns anhalten. Als hätte er genau auf uns gewartet.
„Sollen wir ihn mitnehmen?“, fragte ich.
Karlheinz antwortete nicht sofort. Dann schaltete er den Motor ab. Das Licht ging aus. Stille.
„Er ist nicht zum Mitnehmen da“, sagte er. „Er steht da, wenn es Zeit ist, abzugeben.“
Ich verstand nicht. Oder ich wollte es nicht verstehen. Doch dann fiel mir auf: Das Taxameter war aus. Irgendwann, still und heimlich, war es stehen geblieben.
„Warum ist das Taxameter aus?“
Er antwortete nicht. Öffnete stattdessen die Fahrertür, stieg aus und ging langsam auf den Mann zu. Dann verschwanden sie.
Ich wartete.
Fünf Minuten. Zehn. Eine halbe Stunde.
Niemand kam zurück.
Ich saß da. In Karlheinz’ Taxi. Der Motor war aus. Ich war jetzt der Fahrer.